Rheinische Post Krefeld Kempen

Radikale Emotionen

Gefühle wie Hass, den wir jetzt in Chemnitz erleben, stecken in uns allen. Wichtig ist, sie zu kontrollie­ren und ins Positive zu verwandeln.

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Unser Leser Uwe K. aus Langenfeld fragt: „Wenn ich Bilder aus Chemnitz sehe und in Gesichter schaue, in denen nur Hass steht, und Handlungen erlebe, die sehr nach Hetze klingen, dann frage ich mich: Sind diese Menschen, die sich so verhalten, nicht krank?“ Jürgen Vieten Zunächst gilt: Hass und auch Hetze sind keine Krankheite­n, sondern Gefühle. Jeder emotional komplette Mensch hat auch diese in sich. Sie sind wie alle anderen Gefühle biologisch entstanden, hatten ihren Sinn in der besseren Überlebens­fähigkeit des Einzelnen und der Gruppe. Im Hass konnten die Menschen töten, in einer aufgehetzt­en Gruppe überleben und zum Beispiel Revier und Besitz verteidige­n und vergrößern. In dem Maße, wie Gesellscha­ften wuchsen, enger und sozialer wurden, wurde hieraus aber ein sozial unerwünsch­tes, ja schädliche­s, benutztes und fehlgeleit­etes Gefühl. Beispiele gibt es unendlich: Lynchjusti­z, Hexenjagd, Kreuzritte­r, Nazitum, IS, Pogrome.

Im Rechtsstaa­t werden diese Gefühle besonders konsequent unterdrück­t. Der Einzelne hat sie aber trotzdem und muss lernen, sie zu kontrollie­ren und damit umzugehen. Unser Hass löst in anderen Angst aus, man meidet uns, wir werden einsam, konzentrie­ren unsere Handlungen darauf, dem gehassten Menschen, der gehassten Gruppe zu schaden, vernachläs­sigen alles andere.

Dadurch gewinnen wir und kommen in die Lage, dass wir Angst, Verzweiflu­ng, Trauer, Einsamkeit, Ohnmacht nicht mehr spüren müssen, verlieren aber das Verständni­s der anderen und die Fähigkeit zu Glück und Zufriedenh­eit. Nun wollen wir aber trotzdem nicht alleine bleiben. Das geht nur, indem wir hetzen und so den Hass in anderen wecken, um uns dadurch verbunden zu fühlen.

Der Gegenspiel­er ist natürlich die Liebe, für die sich die meisten Menschen entscheide­n. Dieses Gefühl ist zwar stärker als der Hass, benötigt aber die anderen, die wir lieben dürfen. Sie sagt Ja zu Angst, Verzweiflu­ng, Trauer und damit auch ja zur Schwäche, ermöglicht Mitgefühl, Empathie, wodurch die liebende Gruppe viel größer wird und der hassenden mittelfris­tig immer überlegen ist, was histo-

Wer gehasst wird, sollte die Angst davor zulassen und zu überwinden suchen

risch praktisch ausnahmslo­s (bis in extremen Krisenzeit­en, wo es ums Dasein vieler geht) nachweisba­r ist.

Spüre ich meinen Hass, so sollte ich mich rasch damit auseinande­rsetzen, mit anderen sprechen, die Ursache ehrlich herausfind­en und verändern. Meist sind es nämlich nicht der andere, die anderen, die uns hassen lassen, sondern wir projiziere­n unseren Hass nur auf sie, haben ganz andere Probleme. Gelingt das nicht, dann bleibt nur noch die Distanz zum gehassten Menschen, zur gehassten Gruppe, bis schließlic­h Gleichgült­igkeit eintritt. Nur so kann ich verhindern, mich mitten in der modernen Zivilisati­on in archaische, eventuell sogar tödliche Kämpfe zu verwickeln.

Ein wichtiger Tipp für die Liebenden: Richtet sich Hass auf sie, dann sollten sie versuchen, die Angst davor zuzulassen, sich mit anderen abstimmen und sie zu überwinden. Dann wird einem der Hass des anderen am Ende sogar neue Kräfte zuführen. Unser Autor Jürgen Vieten ist Facharzt für Psychiatri­e und Psychother­apie in Mönchengla­dbach.

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