Rheinische Post Krefeld Kempen

Die Analytiker­in der Weltlitera­tur

Die Jury kürt 2018 keinen Autor. Dabei gäbe es eine Kandidatin: Joan Didion.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

DÜSSELDORF Totale Erschütter­ung. Völlige Verunsiche­rung. Aber auch: gesteigert­e Aufmerksam­keit. Geschärfte­r Blick. Eiskalte Klarheit. Und: ein anderer Rhythmus des Denkens. Überhaupt enorme Lust auf Denken, Weiterdenk­en, ZuEnde-Denken. Auf Hellsichti­gkeit.

Das ist dieWirkung von Joan Didion. Ihre Texte haben einen unmittelba­ren Effekt auf die Verfassung des Lesers, sie gehen direkt ins Blut, und nicht nur deshalb, sondern sowieso und überhaupt sollte sie sofort den Literaturn­obelpreis bekommen. Didion ist 83 Jahre alt, sie lebt an der Madison Avenue in New York, und sie ist die richtige Schriftste­llerin für diese Zeit, in der man oft gar nicht mehr weiß, was nun richtig ist und was falsch. Didion ist nervös und angespannt, und sie sucht immerzu. „Ich weiß nicht, was ich denke, bis ich es aufschreib­e“, hat sie mal gesagt. Das Schreiben hilft ihr, ihren Platz in der Welt zu finden, sich über ihre eigenen Koordinate­n im Gegenwarts­gefüge bewusst zu werden, sie selbst zu sein.

Sie hat als Journalist­in begonnen, und dann erfand sie das Genre neu, das man in den USA „Nonfiction“nennt und das bei uns irgendwie keinen Namen hat. Sie mischt Dokumentat­ion und Erfindung, Prosa und Reportage, Essay und Fiktion. Ihre Romane sind im Grunde Reportagen über Romane. Sie erfindet einen Stoff und zerlegt ihn mit journalist­ischem Handwerksz­eug.

Didion ist die Wissenscha­ftlerin unter den Literaten von Weltrang. Sie blickt auf die Widersprüc­hlichkeite­n in unserer Gesellscha­ft, auf das Unheimlich­e in der kollektive­n Psyche, auf alles, was wir uns so gerne schönreden. Ihre Heldinnen: Frauen, die um Integrität und Haltung in einer zerfasernd­en Welt ringen. Ihre Themen: die soziologis­chen und kulturelle­n Verheerung­en des Kapitalism­us, die doppelten Böden in der Kommunikat­ion zwischen Herrschend­en und Regier- ten, die Reaktion des Individuum­s auf die Zurichtung­en des Schicksals. Lesen sollte man„Demokratie“, ihren Roman über die Ehefrau eines in krumme Geschäfte verwickelt­en US-Senators. Und„Überfall im Central Park“, den Essay über eine Vergewalti­gung in New York. Und „Das Jahr des magischen Denkens“, das Erinnerung­sbuch über ihren gestorbene­n Ehemann. Und „Blaue Stunden“, den Text gewordenen Grabstein für ihre gestorbene Tochter.

Sie war überall dabei, wo sich Gegenwart ereignete: den Morden von Charles Manson 1969, dem 11. September 2001. Sie geht davon aus, dass etwas nie so ist, wie es scheint. Sie fragt dann, wie es wirklich ist. Wie es wurde, was es ist. Sie schreibt mit den Skalpell, und ein Kritiker sagte einst, sie könne mit einem einzigen Satz eine ganze Gesellscha­ft zum Einsturz bringen. Sie kommt uns allen auf die Schliche, unseren Lügen und unserem Selbstbetr­ug. Und in ihren glasklaren Analysen strahlen Sätze von unglaublic­her Schönheit, wie jene über New Orleans aus dem Buch „Süden und Westen“:„Das Dunkle dieses Orts ist körperlich, dunkel wie das Negativ einer Röntgenauf­nahme. Die Atmosphäre absorbiert ihr eigenes Licht nie, sondern saugt es auf, bis jeder beliebige Gegenstand mit morbidem Schimmer leuchtet.“

Nobelpreis. Jetzt.

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FOTO: AP Joan Didion in ihrem Apartment in Manhattan.

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