Rheinische Post Krefeld Kempen
Die Analytikerin der Weltliteratur
Die Jury kürt 2018 keinen Autor. Dabei gäbe es eine Kandidatin: Joan Didion.
DÜSSELDORF Totale Erschütterung. Völlige Verunsicherung. Aber auch: gesteigerte Aufmerksamkeit. Geschärfter Blick. Eiskalte Klarheit. Und: ein anderer Rhythmus des Denkens. Überhaupt enorme Lust auf Denken, Weiterdenken, ZuEnde-Denken. Auf Hellsichtigkeit.
Das ist dieWirkung von Joan Didion. Ihre Texte haben einen unmittelbaren Effekt auf die Verfassung des Lesers, sie gehen direkt ins Blut, und nicht nur deshalb, sondern sowieso und überhaupt sollte sie sofort den Literaturnobelpreis bekommen. Didion ist 83 Jahre alt, sie lebt an der Madison Avenue in New York, und sie ist die richtige Schriftstellerin für diese Zeit, in der man oft gar nicht mehr weiß, was nun richtig ist und was falsch. Didion ist nervös und angespannt, und sie sucht immerzu. „Ich weiß nicht, was ich denke, bis ich es aufschreibe“, hat sie mal gesagt. Das Schreiben hilft ihr, ihren Platz in der Welt zu finden, sich über ihre eigenen Koordinaten im Gegenwartsgefüge bewusst zu werden, sie selbst zu sein.
Sie hat als Journalistin begonnen, und dann erfand sie das Genre neu, das man in den USA „Nonfiction“nennt und das bei uns irgendwie keinen Namen hat. Sie mischt Dokumentation und Erfindung, Prosa und Reportage, Essay und Fiktion. Ihre Romane sind im Grunde Reportagen über Romane. Sie erfindet einen Stoff und zerlegt ihn mit journalistischem Handwerkszeug.
Didion ist die Wissenschaftlerin unter den Literaten von Weltrang. Sie blickt auf die Widersprüchlichkeiten in unserer Gesellschaft, auf das Unheimliche in der kollektiven Psyche, auf alles, was wir uns so gerne schönreden. Ihre Heldinnen: Frauen, die um Integrität und Haltung in einer zerfasernden Welt ringen. Ihre Themen: die soziologischen und kulturellen Verheerungen des Kapitalismus, die doppelten Böden in der Kommunikation zwischen Herrschenden und Regier- ten, die Reaktion des Individuums auf die Zurichtungen des Schicksals. Lesen sollte man„Demokratie“, ihren Roman über die Ehefrau eines in krumme Geschäfte verwickelten US-Senators. Und„Überfall im Central Park“, den Essay über eine Vergewaltigung in New York. Und „Das Jahr des magischen Denkens“, das Erinnerungsbuch über ihren gestorbenen Ehemann. Und „Blaue Stunden“, den Text gewordenen Grabstein für ihre gestorbene Tochter.
Sie war überall dabei, wo sich Gegenwart ereignete: den Morden von Charles Manson 1969, dem 11. September 2001. Sie geht davon aus, dass etwas nie so ist, wie es scheint. Sie fragt dann, wie es wirklich ist. Wie es wurde, was es ist. Sie schreibt mit den Skalpell, und ein Kritiker sagte einst, sie könne mit einem einzigen Satz eine ganze Gesellschaft zum Einsturz bringen. Sie kommt uns allen auf die Schliche, unseren Lügen und unserem Selbstbetrug. Und in ihren glasklaren Analysen strahlen Sätze von unglaublicher Schönheit, wie jene über New Orleans aus dem Buch „Süden und Westen“:„Das Dunkle dieses Orts ist körperlich, dunkel wie das Negativ einer Röntgenaufnahme. Die Atmosphäre absorbiert ihr eigenes Licht nie, sondern saugt es auf, bis jeder beliebige Gegenstand mit morbidem Schimmer leuchtet.“
Nobelpreis. Jetzt.