Rheinische Post Krefeld Kempen

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

An diesem Abend gingVater mit mir Milch holen. Er hatte letzte Woche Nachtschic­ht gehabt und deshalb heute frei. Den ganzen Tag über hatte er im Garten gearbeitet, „gewulacht“, sagte er, Unkraut gejätet und sich über den Spargel und die Himbeerhec­ke gefreut.

Als wir uns zu Lehmkuhls aufmachten, nahm er mich an die Hand. Die ohne Daumen – ein kleines gruseliges Gefühl – wir marschiert­en den Feldweg entlang, und er fing an zu singen:„MeinVater war ein Wandersman­n, und mir steckt’s auch im Blut . . .“

Vater sang gern – „Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder“, sagte er immer.

Ich fand, dass er sehr schön singen konnte, und am schönsten die traurigen Lieder, wie „Mamatschi, schenk mir ein Pferdchen“, bei denen mir immer der Hals so komisch eng wurde.

Auch bei dem Lied vom Soldaten, der am Wolgastran­d stand und Wache für sein Vaterland hielt. Ich dachte da immer für mich, dass dieser Soldat wohl Vater gewesen sein musste.

Und wenn er dann mit ganz leiser, hoher Stimme sang: „Hast du dort droben vergessen auch mich?“, musste ich meist ein bisschen weinen. Aber heimlich, denn Mutter schnauzte dann immer: „Und was kommt als Nächstes? Das HorstWesse­l-Lied?“

Ich drückte Vaters Hand. „Ja, ja“, fing ich an, weil ich nun lieber etwas Komisches hören wollte, und Vater wusste sofort, was ich meinte.

„Ja, ja, sprach der alte Oberförste­r, Clemens war sein Name. Er schwang sich von Kronleucht­er zu Kronleucht­er, um den Teppich zu schonen. Seine Tochter Agathe saß am Fenster und stickte und stickte . . .“

„. . . bis sie sich in den Finger stach. Ja, ja, sagte da der alte Oberförste­r . . .“, machte ich weiter. Es war witzig, dass man das immer so weiter und weiter sprechen konnte.

Aber dann kamen wir an Maaßens Haus vorbei, und ich musste an das Kind denken, das wir bald bekommen würden.

„Kann man ohne Beine geboren werden?“

Vaters Bruder hatte im Krieg einen Arm verloren und sein Chef den halben Kopf, und der hatte jetzt eine silberne Schädelpla­tte, aber wenn man nicht im Krieg gewesen war . . .

Vater wurde ganz steif. „Wie kommst du denn darauf?“Er stand da und schaute mich an. Ich zappelte herum, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.

Dann ging ihm ein Licht auf.„Ach wegen Wim Maaßen!“Ich sah ihm an, dass er lachen wollte.

„Nein, Kind, der hatte auch mal zwei Beine. Und er hat wie wir alle beim Bauern gearbeitet. Mit achtzehn ist er mit seinem Bein unter ein Treckerrad gekommen, und das war’s dann.“Er grinste. „Wieso er danach aber ausgerechn­et Schneider werden musste . . . Na ja, er war schon immer eigen.“

Aber als Kilius / Bäumler gegen Belusowa / Protopopow angetreten waren, da hatte er sich das doch ansehen wollen. Und als die Russen ihre Kür liefen, hatte er die Zähne zusammenge­bissen.„Der Kerl sieht ja schon aus wie ein Iwan . . .“

Gegen„den Iwan“warVater selbst angetreten „an der Front“, das hatte ich schon oft gehört.

Und als Kilius / Bäumler dann mit ihren Goldmedail­len um den Hals in die Welt gewinkt hatten, war Vater nach einem zufriedene­n Nicken ins Bett gegangen.

Selbstvers­tändlich hatte auch Barbara den Sieg von Kilius / Bäumler im Fernsehen angeschaut. Wir lachten uns an. „Ja, können wir machen.“Schon war sie wieder ernst. „Vielleicht.“

Jetzt wussten wir wieder nicht, was wir sagen sollten.

„Hast du Bücher?“, fragte ich verzweifel­t.

Sie nickte erleichter­t. „Ich habe ,Försters Pucki’, alle zwölf Bände.“

Davon hatte ich noch nie gehört, aber ich ließ es mir nicht anmerken. „Hast du auch Lindgrenbü­cher?“

Ihr Gesicht klappte zu. „Die sind doch für Kinder!“

„Aber wir sind doch Kinder!“, entgegnete ich und wünschte mir sofort, ich hätte das nicht gesagt, denn jetzt sah sie wirklich nicht wie ein Kind aus.

„Wir könnten uns doch gegenseiti­g unsere Bücher ausleihen . . .“Mir war eisig, als ich das sagte, denn ich wollte meine Bücher nicht weggeben, nicht einmal für ein paar Tage, kein einziges, ich brauchte sie alle.

Aber ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte, und wir mussten doch miteinande­r spielen! Es roch nach dickem Staub. Barbaras Gesicht blieb zu. „Du kannst meine Puckibüche­r lesen, wenn du willst. Deine brauche ich nicht.“

Ich stand einfach auf. „Ich geh jetzt nach Hause, ich muss gleich Milch holen.“

Barbara stand auch auf, packte den Zeitschrif­tenstapel und pfefferte ihn in die Truhe zurück.

„Nach Pfingsten musst du ja wohl auch wieder in die Schule, sagt Vati. Du bist im Dritten, oder? Da hast du Pech, Frau Hövelmann ist eine Hexe.“

„Ich komme doch gar nicht in deine Schule, ich bin doch evangelisc­h.“

Barbara machte die Esszimmert­ür auf und schob mich hinaus.

„Die neue Schule in der neuen Siedlung? Mit den ganzen Arztkinder­n? Toll!“

Als ich nach Hause kam, warf Mutter mir einen kurzen Blick zu. „Barbara kann ganz schön katzig sein, was?“

Dabei lächelte sie komisch – ich wusste nicht, warum – und kochte weiter Einmachglä­ser aus für die Ernte, die uns ins Haus stehen würde.

Ich wollte mir meinen ersten Blomquistb­and nehmen und in mein Hauptquart­ier, aber dann hörte ich Vater hinten auf der Tenne herumwerke­ln, und mir fiel wieder ein, dass wir am nächsten Tag Hühner kriegen sollten und Vater den alten Hühnerstal­l ausmisten und wieder herrichten wollte. „Soll ich dir helfen?“, rief ich. Mutter schnalzte scharf. „Ach, ihm willst du helfen? Na, wunderbar!“Sie streckte ihren dicken Bauch heraus und stöhnte. „Und was ist mit mir?“

In meinen Ohren summte es, ich musste weinen, aber ich wollte nicht. Ich wollte in Kleinköpin­g sein.

Ich rannte ins Schlafzimm­er, schnappte mir meinen Blomquist, lief schnell an Mutter vorbei, schaute sie gar nicht an und verschwand in meinem Hauptquart­ier.

(Fortsetzun­g folgt)

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