Rheinische Post Krefeld Kempen
Seltene Schrift zeigt Wachstum der NSDAP
1938 gaben die Nationalsozialisten anlässlich einer Organisationsänderung eine Gedenkschrift für den Kreis Viersen-Kempen heraus.
KREIS VIERSEN Der schnelle Anfangserfolg der Nationalsozialisten im gesamten Reich hatte nicht zuletzt mit ihrem sicheren Gespür für straffe Organisation zu tun. Nicht nur, dass sie für alle Gruppen der Bevölkerung eigene Organisationen aufbauten, auch die Partei selbst war stringent gegliedert.
In ihrem vorzüglichen „Atlas zur Geschichte des Niederrheins“hat die Essener Professorin Irmgard Hantsche das präzise zusammengefasst: Anfang 1939 gab es 40 Gaue (einschließlich Österreich und Sudeten-Gebiete), 808 Kreise (für 1052 Stadtund Landkreise), 28.376 Ortsgruppen und Stützpunkte (für 79.375 Gemeinden) mit höchstens 1500 Haushalten, 89.378 Zellen mit je 160 bis 400 Haushalten sowie 463.048 Blöcke zu je 40 bis 60 Haushalten (160 bis 240 Personen). „Das Gebiet des Deutschen Reiches war damit flächendeckend erfasst, und der Dualismus von Staat und Partei führte zunehmend zu einer Dominanz der Parteistrukturen“, wertet Hantsche diesen Befund.
Joachim Lilla hat den angesichts der bruchstückhaften Quellenlage mühsamen Versuch unternommen, die Parteiorganisation im Kreis Kempen-Krefeld und in der kreisfreien Stadt Viersen zu untersuchen (Heimatbuch des KreisesViersen 1999). An die Stelle des seit 1933 bestehenden NSDAP-Reichskreises Viersen-Kempen mit dem Kreisleiter Heinrich Niem an der Spitze traten jetzt die NSDAP-Reichskreise Krefeld-Kempen und Mönchengladbach-Rheydt.
Dieser Vorgang, der beiläufig auch zeigt, wie wenig sich die Nationalsozialisten an der bisherigen Verwaltungsgliederung orientierten, mag hier aber unter ausdrücklichem Hinweis auf die akribische Arbeit von Lilla auf sich beruhen. Hier soll die Gedenkschrift im Mittelpunkt stehen, die die Partei 1938 herausgab: „Rückblick auf den Kreis Viersen-Kempen“. Diese wahrscheinlich nur noch in wenigen Exemplaren erhaltene offizielle Publikation ist für den Historiker von großer Bedeutung, denn hier wird Ort für Ort Entstehen und Wachsen der NSDAP im Kreis Kempen-Krefeld und in Viersen dargestellt, in der so genannten „Kampfzeit“und seit der Machtergreifung 1933 – eine wichtige geschichtliche Informationsquelle, denn eigentliche Parteiakten sind auf Ortsebene so gut wie nicht mehr vorhanden. 1945 hatten die Nazis allen Grund, sie zu vernichten, um die schriftlichen Spuren ihrer Taten zu tilgen.
Die Nazi-Schrift von 1938 beginnt nach dem üblichen Führer-Porträt, Bildnissen des Kreisbauernführers Philipp Pleines und des Gauleiters Karl Fried- rich Florian mit einem Rückblick auf den NSDAP-Kreis insgesamt. Niem hält fest, dass der Gauleiter am „Tage der Machtübernahme in Österreich, die Auflösung des Kreises Viersen-Kempen und die Neubildung des Kreises Kempen-Krefeld und des Grenzkreises Gladbach-Rheydt verfügt“hatte.
In den hellsten Farben werden die Parteierfolge im alten Reichskreis Viersen-Kempen geschildert. Am Anfang gab es nur „19 Ortsgruppen mit 734 Parteigenossen, die teils eine schöne Kampfzeit hinter sich hatten, teils organisatorisch aber nur auf dem Papier bestanden.“1938 zählte der Kreisleiter allein rund 1000 SA-Männer. Stolz war er beispielsweise auf die Entwicklung der Hitlerjugend und der NS-Frauenschaft, ferner auf zwei „Gauschulungsburgen“, eine im „Lager Fichtenhain“, die andere, die „Heimmütterschule“, in Brüggen. Beide Einrichtungen bezeichnete Niem als „Schutz- und Trutzburgen unserer Weltanschauung“.
Alphabetisch geordnet von Amern bis Willich, enthalten die Berichte zur Entwicklung der NSDAP-Ortsgruppen viele Details über den ideologischen Kampf der Nazis gegen die Hauptgegner der Partei: die Sozialdemokraten, die Kommunisten und vor allem die katholische Kirche.
Beim Gauleiter hatte „unser Gebiet“lange als „dunkler Punkt“gegolten, schrieb Niem, jetzt aber wäre der Kreis Viersen-Kempen „in
„Der Niederrhein, er ist nicht ,schwarz’, er ist nationalsozialistisch, weil alle Menschen Nationalsozialisten sein wollen“Heinrich Niem NSDAP-Kreisleiter
Ordnung“. Zweckoptimistisch meinte er, dass„die Bevölkerung unseres Heimatkreises nationalistisch sein will, weil sie zum Führer steht, deshalb sehen wir, wohin wir auch schauen, schon überall die Meilensteine nationalsozialistischen Wollens“. Und: „Früher sprachen wir so häufig von einem ,schwarzen’ Niederrhein. Das Wort , schwarz’ hat heute die Bedeutung einer entehrenden Charakterisierung eines Menschen, der dem Führer und seiner Weltanschauung die Gefolgschaft versagt.“Die tief sitzende Gegnerschaft gegen das katholische Zentrum und die„Kanzel“zieht sich durch die Berichte über die Entwicklung der NSDAP-Ortsgruppen. Vielerorts war gegen die Nazis gepredigt worden. Sie hatten es schwer, Versammlungslokale zu finden.