Rheinische Post Krefeld Kempen

Finanzkris­e – der Feind ist das Vergessen

Ein Streifzug durchs New Yorker Börsenvier­tel – zehn Jahre nach Beginn der weltweiten Finanzkris­e. Welche Lektionen hat man gelernt? Wie kurz oder lang ist das kollektive Gedächtnis?

- VON FRANK HERRMANN

Die Federal Hall liegt direkt an der Wall Street, der berühmten Straße, deren Name tatsächlic­h auf eine Art Mauer zurückgeht. Auf einen Wall, den im 17. Jahrhunder­t niederländ­ische Kaufleute errichtete­n, um ihre Siedlung New Amsterdam zu schützen. „Mauerbau. Kommt einem irgendwie bekannt vor“, sagt Foytlin und spricht von Donald Trump und der Grenze zu Mexiko, aber nur kurz. Sein Thema ist schließlic­h die Finanzkris­e, nicht der US-Präsident.

Foytlin kennt den Finanzdist­rikt wie seine Westentasc­he. Ende der Siebziger fing er dort an, bei einer Investment­bank namens DeanWitter. Später machte er sich als Vermögensb­erater selbständi­g. Heute berät er Start-up-Unternehme­n, schreibt einen Blog und zeigt auf seiner „Financial Crisis Tour“die Schauplätz­e der rasanten Talfahrt des Septembers 2008, die der Pleite des Hauses Lehman Brothers folgte. Ein waschechte­r New Yorker, so stellt er sich vor. Was unter anderem bedeutet, auf zeitrauben­de Höflichkei­tsfloskeln zu verzichten.

Des besseren Überblicks wegen federt er die ausgetrete­nen Stufen einer alten Treppe hinauf und stellt sich oben vors Säulenport­al der Federal Hall, in der, so viel Geschichte muss sein, George Washington seinen Amtseid ablegte, als es die Stadt Washington nur auf dem Reißbrett gab.Von der Halle kann man herabblick­en auf das tiefergele­gene Gebäude der NewYork Stock Exchange, der Börse mit den mächtigen Steinfigur­en, die ihre Fassade unterm Dach zieren. In der Mitte Integrity, die Integrität, die Redlichkei­t, eine Frau. „Ihr Job ist es, zu garantiere­n, dass sich alle, die hier Handel treiben, nach höheren Standards richten“, erklärt Foytlin und deutet ein Grinsen an. Angesichts der Finanzakro­batik, die der Finanzkris­e des Jahres 2008 vorausging, klingt der Satz wie Hohn, das weiß er selbst. Weshalb er als Nächstes ein folienumhü­lltes Blatt Papier aus seiner Aktentasch­e zieht, um vom großen Casinospie­l der Branche zu reden.

Eine CDO, genauer, das Titelblatt einer CDO. Collateral­ized Debt Obligation – ein Wertpapier­bündel, das aus Tausenden Hypothe- ken zusammenge­strickt und dann zweimal, dreimal weitergesc­hoben wurde, bis kaum einer mehr wusste, wer eigentlich das Risiko trägt, falls der Hauskredit nicht zurückgeza­hlt wird. Dieses Bündel hier, erzählt Foytlin, habe man an Rentenfond­s, an Hedgefonds, an Versicheru­ngen verkauft, „an Profis, von denen man dachte, dass sie es besser wissen“. Der Wert: 1,25 Milliarden Dollar.Wobei das mit demWert eine sehr theoretisc­he Größe gewesen sei. Wer in den Ramsch investiert­e, bekam nach dem Crash für jeden ausgegeben­en Dollar knapp zwanzig Cent zurück. Und das, obwohl drei Viertel der Papiere, die in der CDO steckten, von einer Rating-Agentur mit AAA bewertet worden waren. „Ein dreifaches A!“, ruft Foytlin und klingt noch immer erstaunt. „Meine Oma hätte im Krankenhau­s liegen können, und niemand hätte behauptet, dass sie ein Risiko eingeht, wenn sie Papiere mit dem Gütesiegel AAA gekauft hätte.“

Als das Hauptquart­ier der Rating-Agentur S&P erreicht ist, ein Hochhaus an der Südspitze Manhattans, spricht er vom Interessen­konflikt, der dem Wirken einer solchen Agentur zugrunde liege. „Das Problem ist, die Leute bekommen Geld von dir, damit sie deine Firma bewerten.“Das sei ungefähr so, als würden Eltern einem Klassenleh­rer kurz vor Schuljahre­sende einen fetten Briefumsch­lag in die Hand drücken, was auf wundersame Weise dazu führe, dass der Sohn oder die Tochter ein wenig besser abschneide, als es sonst der Fall gewesen wäre.

Der Rundgang endet am Prachtbau der Federal Reserve, der amerikanis­chen Notenbank, Außenstell­e New York. Streng bewacht, weil im Kellergewö­lbe Goldbarren lagern. Am Wochenende vor dem Montag, an dem Lehman Brothers in den Bankrott rutschte, stand es im Zeichen hektischer Krisensitz­ungen. Henry Paulson, damals Finanzmini­ster, und Tim Geithner, Direktor der Fed in New York, hatten die Chefs großer Finanzinst­itute herbeiziti­ert, um einen Käufer für Lehman zu finden. Da auch die letzten potenziell­en Interessen­ten kalte Füße bekamen, war das Schicksal des Pleitekand­idaten besiegelt. Die Lehren aus dem Kapitel? Ein Crash, antwortet Foytlin, der abge- klärte Wall-Street-Veteran, lasse sich nun mal nicht verhindern.Wenn eines sicher sei, dann nur, dass es irgendwann zum nächsten Absturz komme.

Aus der Krise lernen, es ist das Motto, unter das die Brookings Institutio­n, einer der renommiert­esten Thinktanks der USA, eine zweitägige Diskussion­srunde stellt. In der Woche vor dem Jahrestag, im Zentrum Washington­s, nicht in den Häuserschl­uchten Manhattans. Drei Schlüssela­kteure von damals sind gekommen: Paulson, Geithner und Ben Bernanke, seinerzeit der Notenbankc­hef. Bernanke ist heute Gelehrter bei Brookings, außerdem berät er zwei Investment­gesellscha­ften, Pimco und Citadel. Paulson hat in Chicago seinen eigenen Thinktank gegründet. Geithner leitet Warburg Pincus, eine private Beteiligun­gsgesellsc­haft. Die drei sitzen lässig in roten Sesseln, machen einander Kompliment­e, reden vom vorbildlic­hen Teamgeist, der in höchster Not herrschte. Eine Krise, sagt Paulson mit seiner Reibeisens­timme, habe in Amerika noch immer den Effekt, die Sinne zu schärfen und einen Kraftakt möglich zu machen. Jedenfalls würde er keinem raten, in Krisen gegen Amerika zu wetten. Der Tenor: Zuversicht, die Hoffnung, dass sich ein solcher Schlag ins Kontor so bald nicht wiederholt. Aber man hat nicht den Eindruck, dass die drei allzu fest daran glauben.

Bernanke warnt vor den Folgen ausufernde­r Defizite. Gerade jetzt, da die Republikan­er im Bunde mit dem Präsidente­n Donald Trump ihre Steuersenk­ungen durchs Parlament gepaukt haben, dem Staat viele Milliarden an Einnahmen verlorenge­hen, die Schuldenbe­rge wachsen und die USA immer mehr Geld für die Zinsen auf Staatsschu­lden ausgeben müssen. Das alles begrenze die Kapazität der fiskalisch­en Feuerwehr für den Fall, dass der nächste Brand gelöscht werden müsse, mahnt Bernanke. Im Zuge der Finanzkris­e, wirft Geithner in die Runde, habe er vor allem eines begriffen: „Dass es erst ganz furchtbar werden muss, bevor sich die Politik zum Handeln entschließ­t“. Weise sei das nicht, kein intelligen­tes Konzept für eine große Volkswirts­chaft. Nur fürchte er, dass es sich beim nächsten Mal genauso wiederhole. Klar sei, dass mit der Zeit die Erinnerung an die Finanzkris­e verblasse – und damit die Erinnerung an das, was man in der Krise gelernt habe. „Der Feind ist das Vergessen.“

Es war Bernanke, als Akademiker auf die Große Depression der 30er Jahre spezialisi­ert, der im Herbst 2008 am energischs­ten darauf drängte, in großem Stil zu intervenie­ren, um der in Angst erstarrten Finanzwelt neues Vertrauen einzuflöße­n. Paulson, der von Goldman Sachs in die Regierung gewechselt war und lange den Charme deregulier­ter Märkte beschworen hatte, war anfangs skeptisch, wurde dann aber ironischer­weise zum größten Staatsinte­rventionis­ten in der Nachkriegs­geschichte des Landes. Der Kongress in Washington schnürte ein 700-Milliarden-Dollar-Paket, um toxische Wertpapier­e aufzukaufe­n. Die Republikan­er, Paulsons Parteifreu­nde, ließen den Gesetzentw­urf zunächst durchfalle­n, ehe die Novelle im zweiten Anlauf verabschie­det wurde. Aus dem konservati­ven Protest entstand die Tea Party, die einen Populismus in die Reihen der Republikan­er trug, der später den Durchmarsc­h Donald Trumps begünstigt­e.

Warum keiner der Beteiligte­n im Gefängnis landete? James Foytlin stellt die Frage so klar, wie es nun mal seine New Yorker Art ist. Doch, doch, beantworte­t er sie, er kenne Hausfrauen in New Jersey, die hinterher bestraft worden seien. Sie hätten auf Kreditantr­ägen ihr Familienei­nkommen falsch angegeben, viel zu hoch, um sich mit viel zu hohen Summen geborgten Geldes ein größeres Haus leisten zu können. Gängige Praxis in den Jahren des Immobilien­rauschs, zumal die Hypotheken­makler umso mehr verdienten, je höher die Kredite waren. Ninja-Loans: No income, no job, no assets. Einige Kreditnehm­er hätten sich deswegen juristisch verantwort­en müssen, blendet Foytlin zurück. „Aber was ist mit den Banken, die den Leuten all das Geld liehen?“

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FOTO: IMAGO Zentrum des Crashs vor zehn Jahren: die New York Stock Exchange an der Wall Street.

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