Rheinische Post Krefeld Kempen

„Rassismus ist Massenunte­rhaltung geworden“

Für den großen afrikanisc­hen Denker hat die Menschheit einen gefährlich­en, selbstzers­törerische­n Weg eingeschla­gen.

- LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

DÜSSELDORF Der Kameruner Achille Mbembe gehört zu den führenden Denkern Afrikas und ist einer der bedeutends­ten Vertreter der postkoloni­alen Theorie. Für sein Werk wird der Wissenscha­ftler am 8. Oktober in Düsseldorf mit dem renommiert­en Gerda-Henkel-Preis geehrt; dieser ist mit 100.000 Euro dotiert

Was weiß Europa eigentlich über Afrika?

MBEMBE In den vergangene­n 100 Jahren hat sich eine riesige Menge an Wissen über Afrika angesammel­t. Der größte Teil dieses Wissens stammt von europäisch­en Gelehrten an westlichen Instituten. Dieses Wissen berührte kleinste Details der afrikanisc­hen Geschichte, also auch des Alltags wie der Kultur, der Wirtschaft, der Pflanzen, der Entwicklun­g usw. Dank der neuen Technologi­en ist dieses Wissen auch allen zugänglich. Dennoch ist das Ausmaß der Ignoranz gegenüber Afrika – nicht nur unter den normalen Menschen, sondern auch bei den europäisch­en Entscheidu­ngsträgern – gewaltig. Die Frage ist also nicht, ob dieses Wissen wirklich existiert, sondern: Warum so viele Menschen heilfroh sind, Afrika nicht zu kennen? Wie können wir das ändern? Warum wird Afrika nicht an Schulen oder Hochschule­n unterricht­et? Können wir wirklich Weltbürger erziehen, die so ignorant gegenüber einem großen Teil dieser Welt sind, die sie mit anderen Menschen doch teilen?

Sie haben geschriebe­n, dass Afrika keine Geschichte, sondern nur Legenden über diesen Kontinent besitze …

MBEMBE … nein, ich habe nicht gesagt, dass Afrika keine Geschichte hat. Wie könnte ich? Vielmehr habe ich geschriebe­n, dass viele in Europa – und in anderen Teilen der Welt – glauben, Afrika habe keine Geschichte. In Deutschlan­d war dies die These, die zum Beispiel der große Philosoph Hegel vor nicht allzu langer Zeit vorbrachte. Die westliche Welt lebt immer noch im Schatten von Hegels Vorstellun­g des Kontinents. Natürlich ist Hegels Vorstellun­g von Afrika pure Fantasie. Afrika ist die Wiege der Menschheit. Seine Geschichte begann nicht mit dem Sklavenhan­del oder mit dem Kolonialis­mus. Lange vor dem Sklavenhan­del und der Kolonialis­ierung entwickelt­e der Kontinent komplexe kulturelle, religiöse und politische Systeme. Es baute komplizier­te Wirtschaft­snetzwerke auf, die auf den Fernhandel spezialisi­ert waren, wurde Geburtsort künstleris­cher Errungensc­haften. Afrika entwickelt­e intelligen­te Mechanisme­n, die es uns erlaubten, die Erde mit anderen Lebewesen auf eineWeise zu teilen, von der wir noch heute lernen können.

Ist die Menschheit Ihrer Meinung von diesem Weg grundsätzl­ich abgekommen?

MBEMBE Die Welt geht einen gefährlich­en Weg. Das liberale demokratis­che Modell steckt in einer tiefen Krise, wenn es nicht gerade von den Kräften des Finanzkapi­talismus ausgehöhlt wird. Wir sind bei der Zerstörung des Erdsystems extrem weit gegangen, bis zu dem Punkt, wo die philosophi­sche und kulturelle Hauptfrage unserer Zeit wohl die des möglichen Endes der menschlich­en Spezies sein könnte. Die Probleme sind nicht lokal oder national; sie sind global. Sie werden darum auch nicht allein von den Nationalst­aaten gelöst werden können – weil unsere Epoche eine der globalen Verstricku­ngen ist.

Was heißt das für die Gestaltung unserer Zukunft?

MBEMBE Die Frage ist, ob die menschlich­e Spezies überhaupt noch einen wesentlich­en Beitrag zur Zukunft des Lebens auf der Erde leisten kann. Wenn nicht, ist die menschlich­e Spezies dabei, ihr eigenes Ende auf möglichst destruktiv­eWeise zu organisier­en? Für mich sind das die zentralen Herausford­erungen des neuen Jahrhunder­ts. Viele in Europa, aber auch anderswo, denken und benehmen sich, als ob es eine einfache Angelegenh­eit wäre, Grenzen um sich herum zu errichten! Das ist keine militärisc­he Frage; es geht um eine verrohte Gesellscha­ft.

Gehört dazu die Gefahr, dass Europa in der Abwehr von Flüchtling­en

eine Art Festung werden könnte?

MBEMBE Damit Europa in der heutigen Welt zu einer Festung wird, muss es sich zu einem gewaltigen, völkermord­enden Projekt im globalen Maßstab entwickeln. In der Tat ist die Idee, eine Festung zu werden, eine typisch verrückte Idee. Ich glaube nicht, dass Europa verrückt geworden ist – zumindest noch nicht. Ich möchte glauben, dass es in Europa immer noch mächtige Kräfte gibt, die dem Wahnsinn widerstehe­n können.

Wird denn das 21. Jahrhunder­t zu

her noch nie erlebt haben.Während die Erde immer kleiner wird, werden große Bevölkerun­gsbewegung­en zur Norm werden. Wir stehen vor einerWahl: Entweder organisier­en wir diesen massiven Prozess der Umverteilu­ng der Erde, oder er wird chaotisch ablaufen und am Ende wird es keinen Sieger geben.

Wie stark sind die Menschen heute noch von rassistisc­hem Denken geprägt? Und wird das rassistisc­he Denken jemals aufhören?

MBEMBE Rassistisc­hes Denken ist nicht nur ein Teil unserer Vergangenh­eit. Leider gehört es auch zu unserer Zukunft.Während wir sprechen, sehen wir weltweit einWiedera­ufleben der Ideologien der weißen Vorherrsch­aft, von denen wir dachten, dass sie diskrediti­ert wurden. Rassismus ist zu einer Form der Massenunte­rhaltung geworden. Viele – einschließ­lich der Armen – sind glücklich, von immer perversere­n Formen des Kapitalism­us gefangen zu werden, solange sie mehr Gewalt gegen diejenigen fordern können, die schwächer sind als sie, die nicht wie sie aussehen, die andere Götter anbeten oder nicht die gleiche Sprache sprechen.

Warum können wir Menschen scheinbar so schlecht aus der Geschichte, also aus dem, was passiert ist, lernen?

MBEMBE Wir leben in einer Zeit, in der die Zeit zerglieder­t wurde. Unzählige Dinge können einfach gelöscht oder bearbeitet werden: Wir glauben nicht mehr an Bücher. Wir lassen Archive und Museen verbrennen. Es gibt nichts, dass so unberechen­bar wäre, dass es gegen Zerstörung immun ist. Wenn eine Kultur einen Punkt erreicht hat, an dem geglaubt wird, dass alles allem gleicht, wenn alles gekauft und verkauft und alles durch alles andere ersetzt werden kann und nichts mehr unschätzba­r ist, dann wissen wir, dass Geschichte als solche nutzlos ist. Es gibt dann absolut nichts zu lernen aus der Vergangenh­eit. Alles was dann noch zählt, ist der Genuss in der Gegenwart.

 ?? FOTO:LAIF ?? Gehört zu den wichtigste­n Denkern Afrikas: der Kameruner Achille Mbembe.
FOTO:LAIF Gehört zu den wichtigste­n Denkern Afrikas: der Kameruner Achille Mbembe.

Newspapers in German

Newspapers from Germany