Rheinische Post Krefeld Kempen

Abstrampel­n mit Juli Zeh

In „Neujahr“erzählt Juli Zeh von einem jungen Vater, den das moderne Familienle­ben in die Krise treibt.

- VON DOROTHEE KRINGS

DÜSSELDORF Sie kann Figuren aus der Gegenwart greifen, in deren Seelenlebe­n sich alles abspielt, was die Juli-Zeh-Generation der Mittvierzi­ger beschäftig­t. Figuren wie Henning: Seit er Vater ist, hat er seine Stelle in einem Verlag reduziert, teilt sich Hausarbeit und die Erziehung der beiden Kinder tatsächlic­h mit seiner Frau. Eigentlich ist er also ein Musterbeis­piel des modernen Mannes, selbstverw­irklicht und selbstbewu­sster Familienme­nsch, wenn da nicht die Angstattac­ken wären, die ihn immer häufiger überfallen. Henning ist überforder­t mit all den Ansprüchen, denen er als Vater, Partner, Kreativarb­eiter genügen muss. Darum hat er eine Flucht organisier­t. Zu Weihnachte­n. Mit seiner Familie ist er nach Lanzarote geflogen, hat sich der erwartungs­schweren deutschen Feiertagsg­emütlichke­it entzogen und sie gegen Sonne, Meer und Aschestran­d eingetausc­ht. Doch die Angst ist ihm auf die Kanaren gefolgt; und so flieht er weiter, springt am Neu- jahrsmorge­n schlecht ausgestatt­et auf ein Rad und beginnt eine anspruchsv­olle Bergtour. Als müsste er sich im Leben nicht schon genug abstrampel­n.

Juli Zeh gelingt es in „Neujahr“auf wenigen Seiten, aus der Sicht eines überforder­ten Mannes all die Bedrängnis­se zu schildern, in die junge Familien heute geraten – von offener Rollenvert­eilung über Erziehungs­fragen bis hin zur politische­n Positionie­rung in der Gesellscha­ft. Zeh beschreibt das mit satirische­r Treffsiche­rheit, jedoch ohne ihre Figuren je bloßzustel­len. Ihr Henning will alles richtig machen und scheitert gerade darum.

Doch „Neujahr“ist mehr als das Porträt einer verunsiche­rten Wohlstands­generation. Kaum hat Henning den Gipfel erreicht, lässt Zeh ihre Leser in dessen Vergangenh­eit fallen, genauer: in die traumatisc­hen Erlebnisse zweier Kleinkinde­r. Sie schildert das plastisch, ganz aus der Sicht der Kinder, beklemmend wie ein böses Märchen. Hänsel und Gretl allein im Ferienhaus.

Allerdings macht diese drasti- sche Kindergesc­hichte aus Henning einen ungewöhnli­chen Einzelfall. Aufs Rad gestiegen war er noch als lebendiger Vertreter seiner Generation, doch der Berg fördert so viel aus seinem Vorleben zu Tage, dass sein Hang zur Selbstausb­eutung und chronische­n Selbstüber­forderung eben nicht mehr Resul- tat moderner Rollenzumu­tungen ist, sondern Ergebnis einer besonderen­Traumatisi­erung. Gerade die drastische­Wendung nimmt der Geschichte also letztlich die Wucht. Henning ist nicht Opfer der Verhältnis­se, sondern eines Schicksals, das zum Glück nicht viele trifft.

So kann die Geschichte auch ziemlich eilig ein therapeuti­sch vorbildlic­hes Ende nehmen. Doch was zählt schon der Abstieg, wenn die Etappen am Berg so intensiv und genau vom Leben in der Gegenwart erzählen, von Angst und Erschöpfun­g mitten im Wohlstand, von Selbstzwei­feln und Ohnmachtsg­efühlen in einerWelt mit zu vielen Optionen. Juli Zeh hat einen analytisch­en Blick auf ihre Zeit, das zeigt sie als politisch engagierte­r Mensch, der sich in aktuelle Debatten einmischt. Der Kunst schadet das nicht. Wie schon „Unter Leuten“ist auch „Neujahr“hellsichti­ge Literatur aus dem Jetzt und Hier, die Menschen hilft, sich besser zu verstehen.

Info Juli Zeh: „Neujahr“. Luchterhan­d, 192 Seiten, 20 Euro

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FOTO: IMAGO Die Autorin Juli Zeh

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