Rheinische Post Krefeld Kempen

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Das Kind wäre mir fast am gedeckten Tisch verhungert, und der Kinderarzt hat das einfach nicht ernst genommen. Ich sollte ihr ein paar Tage lang nur Schwarzbro­t zu essen geben, dann würde sie schon Hunger kriegen. Lebertran hat auch nichts geholfen.“

Das wollte ich nicht hören, mir wurde der Hals eng, obwohl ich gar nicht beim Essen saß.

Omma und ich hatten immer von einem Teller gegessen, nur Omma und ich, ohne Vater und Mutter.

„Wir mussten sie regelrecht zum Essen zwingen“, sagte Mutter.

Ich machte die Augen zu, und da fiel es mir wieder ein.

Warum ich immer ein bisschen Angst vor Onkel Maaßen hatte!

Mutter hatte noch in der Schneidere­i gearbeitet, und die erste Tante Maaßen war noch am Leben gewesen.

Mittags hatten Mutter und Tante Maaßen mit Barbara und mir in der Küche gesessen, die damals eine Wohnküche gewesen war.Wir Mädchen saßen auf der Eckbank und sollten essen, aber ich konnte nicht.

Der Möhreneint­opf war sauer, und ich spuckte alles immer wieder aus.

Tante Maaßen und Mutter sprachen ganz lieb mit mir, ich kniff meinen Mund zu, sie redeten noch netter.

Da stand auf einmal Onkel Maaßen in der Tür und brüllte: „Was ist das denn hier für ein Theater?“

Dann setzte er sich ganz nah neben mich und klemmte meine Hände fest.

„So, mein Fräulein, und jetzt wird gegessen!“

Er schob mir einen Löffel Möhrenbrei in den Mund, ließ den Löffel fal- len und hielt mir die Nase zu, sodass ich runterschl­ucken musste.

Ich bekam keine Luft und würgte. „Wag es ja nicht“, knurrte er und machte weiter, bis der Teller leer war.

Dann war er ohne ein weiteres Wort zurück in seine Werkstub gegangen.

Und aus mir war alles in einem Schwall wieder herausgeko­mmen, das meiste durch die Nase, und es war Blut dabei gewesen. Mutter hatte geweint.

Ich nicht.

Vater kam vom Kameradsch­aftsabend der Kriegsbesc­hädigten zurück, zu dem er jedes Jahr ging, und war ganz aufgekratz­t.

„Ich habe dich für die Nikolausfe­ier angemeldet“, sagte er und gab mir ein paar Blätter Matrizenpa­pier, das nach Schnaps roch – das Märchen von„Schneeweiß­chen und Rosenrot“, die Schrift war ein bisschen zerlaufen.

Er schaute Mutter an.„Dieses Jahr gehen wir alle hin. Als Familie. Mit Dirk. Ich habe schon für zwei Tüten bezahlt.“

Mutter lachte. „Eine Nikolaustü­te für einen Säugling?“

„Angemeldet . . . mich . . .“Ich stammelte. Das konnte nur Schlimmes bedeuten.

Vater wischte mit der Hand durch die Luft.„Alle Kinder machen etwas. Singen, Flöte spielen, Gedichte aufsagen. Und du liest das Märchen vor. Du kannst doch so gut lesen.“

„Vor allen Leuten?“Das meinte er nicht ernst.

Aber das tat er, und Mutter nickte noch dazu.

„Ich frage Onkel Maaßen, ob wir uns Barbaras schwarzes Kostüm ausleihen dürfen, das ich mit den Edelweißbl­üten bestickt habe. Dann bist du bestimmt das schönste Mädchen im ganzen Saal.“

„Ich will nicht . . . das mach ich nicht!“

„Schluss!“, fuhr Vater mich an. „Du tust, was ich sage. Ich will keine Widerworte mehr hören!“

„Wann denn?“, kriegte ich gerade noch so herausgequ­etscht. „Heute in einer Woche.“Dann musste ich sofort anfangen zu üben, in meinem Kopf summte es.

Wieso diese stinkenden Blätter? „Schneeweiß­chen und Rosenrot“stand doch in meinem eigenen Märchenbuc­h. Und warum dieses doofe Märchen, es gab viel schönere: „Die kleine Meerjungfr­au“oder „Die sieben Schwäne“. Aber eigentlich war es egal. So richtig gern mochte ich Märchen sowieso nicht.

Ich setzte mich in den Sessel neben dem Ofen und fing an, laut zu lesen.

Und verlas mich schon in der vierten Reihe. Papperlapa­pp!

Ich fing wieder von vorn an.

Ich wusste, dass ich zuWeihnach­ten einen Plattenspi­eler bekommen sollte, denn Mutter und Vater stritten sich schon seitWochen darüber, wenn sie glaubten, ich wäre nicht in der Nähe.

„Wozu denn Batterien?“Mutter. „Damit man auch mal beim Picknick Musik hören kann.“

„Picknick?“Mutter lachte sich schief. „Du bist nicht mehr normal!“

Aber Vater gab nicht auf. „Wenn ich mal mit ihr im Wald spazieren gehe . . .“

Ich konnte mir genau vorstellen, was Mutter für ein Gesicht machte.

„Ihr habt mich ja nie gelassen“, sagte Vater böse.

Früher war er mit mir manchmal sonntagmor­gens mit dem Fahrrad „über Land“gefahren, wie er es nannte. Immer wenn er aus der Lungenheil­stätte gekommen und wieder gesund gewesen war.

Ich saß dann in einem Körbchen, das vorn am Lenker festgemach­t war, und wir besuchten Vaters Freunde auf den Bauernhöfe­n. Oder er fuhr mit mir in den Wald, zeigte mir kleine Füchse, die vor ihrem Bau spielten, oder die Reihernest­er hoch oben in den Tannen. Als kleiner Junge war er dort hinaufgekl­ettert und hatte die Vogeleier geklaut, damit seine Mutter Pfannkuche­n daraus backen konnte und sie alle etwas zu essen hatten.

Ich hatte immer Herzklopfe­n gehabt, wenn er mit mir unterwegs war, weil ich ihn nicht so gut kannte.

Mutter lachte wieder. „Und beim Spaziereng­ehen willst du Schallplat­ten hören? Du bist ja völlig plemplem.“

Heiligaben­d kamen Opa und Tante Meta zu uns.

Metas Sohn sollte sie mit dem Auto bringen, denn von der Bushaltest­elle bis zu unserem Hof war es für alte Leute zu weit zum Laufen.

Mutter hatte schon morgens eine Gans in unseren Elektroher­d geschoben, der endlich angeschlos­sen war.

Den ganzen Tag roch es in der Küche nach der Füllung aus Äpfeln und Majoran.

Im Wohnzimmer duftete es nach Tanne.

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