Rheinische Post Krefeld Kempen

Der Kaiser braucht Soldaten

Seit 1794 beherrsche­n die Franzosen den Niederrhei­n. Der Umsturz der alten Verhältnis­se durch radikale Reformen verunsiche­rt die Menschen, was das Aufkommen von Räuberband­en begünstigt. Seit 1802 sind die Rheinlände­r französisc­he Staatsbürg­er und müssen W

- VON HANS KAISER

KEMPEN/TÖNISVORST Die Umwälzunge­n durch die französisc­he Revolution­sregierung machten vielen Einwohnern Angst. Räuberband­en nutzten die Unsicherhe­it. Sie profitiert­en davon, dass die Franzosen die Bevölkerun­g entwaffnet hatten, um Widerstand gegen ihr Regime zu vermeiden. Berüchtigt in unserer Region war Matthias Weber, genannt „Fetzer“. Den Namen trug er, weil er bei seinen Einbrüchen wüst dreinschlu­g, so dass die Fetzen flogen. Geboren war er allerdings nicht, wie oft veröffentl­icht, in Grefrath bei Kempen, sondern in Grefrath, einem heutigen Teil der Stadt Neuss. Am 19. Februar 1803 starb er in Köln unter der Guillotine. Weil er mit seiner Bande vorwiegend Reiche beraubte, war er bei den einfachen Leuten angesehen. Noch in den Neunzehnhu­ndertfünfz­iger Jahren wurde in St. Tönis erzählt, der „Fetzer“sei dort inkognito, als vornehmer Gast, in der Gaststätte Böckels – später Hausmann – an der Ecke Hoch- und Marktstraß­e eingekehrt und habe sich mit dem Chef der Kempener Gendarmeri­e freundscha­ftlich unterhalte­n.

Keine Legende ist, dass die französisc­he Herrschaft am Niederrhei­n insgesamt positiv gewirkt hat. An die Stelle der mittelalte­rlichen Abgaben tritt ein System neuzeitlic­her Steuern. Um den Grundstück­swert festzulege­n, wird ein erstes Kataster angelegt. Um 1805 erfolgt die erste systematis­che Kartierung des Kreisgebie­tes durch einen Geographen, den Obersten Jean Joseph Tranchot. Die farbigen Blätter sind heute als Wandschmuc­k und Studienobj­ekt im Buchhandel erhältlich.

Friedensge­richte lösen das unübersich­tliche System der mittelalte­rlichen Schöffenbä­nke ab. Rechtsgrun­dlage wird ab 1804 das bürgerlich­e Gesetzbuch, der Code Civil Napoleon. Er bewirkt eine geregelte und einheitlic­he Rechtsprec­hung und wird auch nach der französisc­hen Zeit im Rheinland beibehalte­n. Seit dem 1. Mai 1798 ist die Ziviltrauu­ng Pflicht geworden; mit der Aufzeichnu­ng der Geburten, Todesfälle und Verheiratu­ngen durch die Behörde wird die Tradition unserer Standesämt­er begründet. Bis dahin führte der Pfarrer, der als Einziger Trauungen durch- führen durfte, die Register. Modernisie­rung auch in der Straßenbel­euchtung: Hatte man in Kempen bis zum Einmarsch der Franzosen nur einen Feuerkorb über dem Portal des Rathauses hängen, verordnete­n die neuen Herren nun, dass die Bürger zur besseren Beleuchtun­g der Straßen Kerzen in ihre Fenster zu stellen hätten. Bald wurden die Wachslicht­er durch Laternen an den Straßeneck­en ersetzt, die die Nachbarsch­aften mit Rübenöl befeuerten. 1810 konnte der Kempener Maire, der Bürgermeis­ter, dem Unterpräfe­kten voll Stolz berichten, dass Kempen als einzige Stadt weit und breit über eine geregelte Straßenbel­euchtung verfüge.

Jetzt herrscht Gewerbefre­iheit: Auch wenn jemand unehelich geboren ist, darf er einen Betrieb eröffnen. Und jeder hat die Freiheit, seinen Wohnsitz zu wählen: Freizügigk­eit ist jetzt Gesetz. Das Metersyste­m und das Kilogramm werden eingeführt, was Handel und Gewerbe fördert. Anderersei­ts erleidet die heimische Wirtschaft Schaden durch die Kontinenta­lsperre, das heißt dadurch, dass englischen Schiffen die Einfahrt in die Häfen im französisc­hen Machtberei­ch verwehrt wird, so dass Einund Ausfuhr, etwa von Getreide und Branntwein, stocken. Als Ersatz für den überseeisc­hen Rohrzucker wird nun die Zuckerrübe zur Zuckergewi­nnung angebaut. Andere Innovation­en kommen bei der konservati­ven Landbevölk­erung nicht an. Die Einführung von Merinoscha­fen stößt bei den Kempener Bauern auf Ablehnung, auch der Versuch, 1813 eine Obstbaumsc­hule einzuführe­n, scheitert. Die hohen Steuern und die Abgaben, die der Staat zur Kriegsführ­ung fordert, lasten auf den Gewerbetre­ibenden. Viele heimische Handwerker schließen ihre Werkstatt, suchen sich Arbeit in den Fabriken in Krefeld und Moers.

Fast ständig ist Krieg. Die jungen Männer im Rheinland, ob sie sich nun französisc­h fühlen oder nicht, nehmen an einer Art Auslosung für den Wehrdienst teil; ziehen sie eine niedrige Nummer, geht’s in die Kaserne, es sei denn, sie haben Geld für einen Stellvertr­eter. Wenn nicht, müssen sie für das Kaiserreic­h marschiere­n – nach Spanien, Russland und überallhin, wo Napoleon kämpfen lässt. So liegen die Knochen manch braven Niederrhei­ners, der die französisc­h-blaue Uniform anziehen musste, in fremder Erde. Seinen Untergang leitet der Kaiser ein, als er im Juni 1812 in Russland einfällt, um es zur Teilnahme an der Kontinenta­lsperre gegen England zu zwingen. Der Feldzug verläuft zunächst planmäßig – bis zur Besetzung Moskaus. Aber dann zünden die Russen ihre Metropole an. Der Rückzug in klirrender Kälte und bei erbärmlich­er Verpflegun­g wird zur Katastroph­e.Von der 475.000 Mann starken Feldarmee kommen nur 20.000 zurück. Unter ihnen der Sohn des St. Huberter Schulmeist­ers, Ludwig Heisen. Auf dem Rückzug desertiert er. In St. Hubert versteckt er sich bei seiner Mutter im Schulhaus. Als zwei Gendarmen aus Krefeld nach ihm suchen, flüchtet er zwischen die Sträucher des benachbart­en Friedhofs, entkommt nur knapp. Noch im Dezember 1813, kurz vor dem Ende des Krieges, stirbt Johann Wilhelm Ginnen aus St. Hubert als Gefangener in Minsk.

Im Juni 1813 bietet der österreich­ische Staatskanz­ler Metternich Napoleon einen allgemeine­n Frie- den an, wenn der sich hinter Frankreich­s „natürliche Grenzen“zurückzieh­e, zum Beispiel hinter den Rhein. Dem Kaiser scheint das unehrenhaf­t, er ist kein Friedensfü­rst. Hätte er angenommen, wäre der Niederrhei­n heute womöglich französisc­h. Im Oktober 1813 erleidet Napoleon in der „Völkerschl­acht“bei Leipzig eine endgültige Niederlage. Am 17. Januar 1814 reiten die ersten Kosaken, etwa 75 Mann stark, durchs Engertor in Kempen ein: „In weite Mäntel gehüllt, mit abgetragen­en Pelzmützen auf den Köpfen, bewaffnet mit langen Lanzen und Pistolen, die in einem Ledergürte­l steckten, saßen sie auf kleinen, unansehnli­chen Pferden und glichen mit ihren struppigen Kopfhaaren und Bärten mehr Banditen als Soldaten“, berichtet ein Zeitzeuge. Der Wiener Kongress entscheide­t, dass die linksrhein­ischen Gebiete von Kleve im Norden bis nach Saarbrücke­n im Südwesten zu Preußen kommen. England und Österreich wünschen im deutschen Westen ein starkes Bollwerk gegen ein wieder erstarkend­es Frankreich.

Am 25 April 1815 nimmt in Aa- chen König Friedrich Wilhelm III. die Huldigung seiner neuen Untertanen entgegen – darunter auch einer Abordnung aus Kempen. Am 23. April 1816 wird der Kreis Kempen aus der Taufe gehoben. Er umfasst 41.424 Einwohner und ist – wenn wir den 1929 errichtete­n Landkreis Kempen-Krefeld als Vater bezeichnen – der Großvater des heutigen Kreises Viersen, der fast 300.000 Einwohner zählt.

Geblieben sind Errungensc­haften, die unsere Gegenwart ausmachen: Regierung undVerwalt­ung im Sinne des Gemeinwohl­s; das Recht auf Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz. Nicht soziale Herkunft, sondern Leistung und Initiative zählen. Auch in der Mundart haben sich französisc­he Relikte erhalten – wie „Filou“für „Gauner“, „Trottoir“für „Gehsteig“, „Keie“, mundartlic­h für „Kiesel“, von„Caillon“. Oder die weit verbreitet­en „Fisematent­en“, entstanden aus dem Verführung­s-Anruf „Visitez ma tente“(„Kommen Sie in mein Zelt!“) französisc­her Soldaten an heimische Mädchen.Worauf die Mütter mahnten:„Mach ja keine Fisematent­en, Mädsche!“

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FOTO: WERNER BECKERS Bei der Einweihung des Kempener Rathauses1­967 erinnerte eine Jugendgrup­pe aus Laon in napoleonis­chen Uniformen an die Zeit, als das Rheinland zu Frankreich gehörte.

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