Rheinische Post Krefeld Kempen
Norbert Lammert – fest überzeugt von Europa
Die Gäste der Mitgliederversammlung der Volksbank Krefeld lernten den Ex-Bundestagstagspräsidenten als überzeugten Europäer kennen.
ST. HUBERT / TÖNISBERG Die Stimmung war gut im Seidenweberhaus, wo die Volksbank Krefeld, die auch Filialen in St. Hubert und Tönisberg hat, ihre Mitgliederversammlung abhielt. Dafür sorgten die positiven Zahlen, die der zum Oktober nach 24 Jahren imVorstand und 13 Jahren alsVorstandsvorsitzender in den Ruhestand wechselnde Klaus Geurden vortrug: sechs Prozent Dividende auf alle Geschäftsguthaben, 55.000 Privatkonten bei 42.300 Mitgliedern, ein um sieben Prozent auf über vier Milliarden Euro angewachsenes Gesamtkundenvolumen. Geurdens Nachfolger Stefan Rinsch wird ein wohl bestelltes Haus übernehmen.
„Sicher hat die Ankündigung unseres heutigen Gastreferenten zu diesem überwältigen Besuch beigetragen“, mutmaßte Aufsichtsratsvorsitzender Michael Gehlen, als er den früheren langjährigen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert zu dem Thema „Deutschland und Europa – Herausforderungen in einer globalen Welt“ankündigte, der nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag 2017 seit 2018 der Konrad-Adenauer-Stiftung der CDU vorsteht. „Lammert ist ein Mann, der über Parteigrenzen hoch angesehen ist, der abseits der politischen Spielchen wirkliche Themen setzt. Hinzu kommt ein sprachlicher Unterhaltungswert, der nie die Ernsthaftigkeit untergräbt.“
In den vollbesetzten Saal blickend, relativierte der so Gelobte Gehlens Einführung mit feiner Ironie: „Es ist immer wieder ergreifend zu sehen, dass ein Politiker dann volle Akzeptanz erhält, wenn er der politischen Ämter ledig geworden ist.“Dann kam Lammert zur Sache. „Über Europa ist eigentlich alles gesagt. Die Niederlagen sind verkraftet, die Erfolge konsumiert.“Einerseits gelte: Noch nie hat sich Europa in einer besseren Lage befunden. Andererseits: Nie war der europäische Einigungsprozess lustloser und desinteressierter als heu- te. Erst seit ungefähr 30 Jahren verfüge Europa ohne Ausnahme über demokratisch gewählte Parlamente. Für diesen Zustand hätten die Europäer 2500 Jahre gebraucht und zwei Weltkriege mit zusammen 60 Millionen Todesopfern. Aus einer europäischenWirtschaftsgemeinschaft von fünf Staaten sei die heutige Europäische Union von 28 Mitgliedsstaaten geworden. Diese habe über 70 Jahre zu einer stabilen Friedensord- nung geführt und einen gemeinsamen Raum der Freiheit geschaffen, in dem sich die Demokratie fest etablieren konnte.
Die heute 7,5 Milliarden Menschen seien sich durch die digital gestützte Globalisierung sehr nahe gekommen. Die Digitalisierung habe alle Lebensbereiche erfasst und sei in ihrer Auswirkung nicht absehbar. Dies hätte spektakuläre Folgen für die politischen Gestaltungsmög- lichkeiten von Staaten. Galt früher die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, so ist heute jede Information an jedem Ort der Erde jederzeit verfügbar. Vor nicht allzu langer Zeit wusste kein Afrikaner von den Lebensverhältnissen in Europa, heute haben wir eine hunderttausendfache Migration. „Wenn ich bedenke, dass unser Land der Welt bewiesen hat, dass der Wille der Menschen Mauern überwinden kann, dann zweifle ich am gesunden Menschenverstand mancher politischer Äußerungen“, urteilte Lammert. „Die nationalenVolkswirtschaften wandeln sich als Folge der Digitalisierung zu bloßen Recheneinheiten, in denen künstliche Finanzprodukte agieren. Wo etwas passiert, entscheidet der Computer.“So könnte die klügste Antwort auf den Erosionsprozess der Nationalstaaten nur Europa heißen, die nur gemeinsam noch Einfluss auf dasWeltgeschehen nehmen könnten. Europa werde marginalisiert, wenn man das Tempo der Bevölkerungsentwicklung in Afrika, China und Indien betrachte.
Vor diesem Hintergrund sei der Brexit die kopfloseste Entscheidung in der Geschichte eines Volkes, das die Rationalität beinahe genetisch gepachtet habe. Symptomatisch dafür sei zu sehen, dass sich immer weniger politische Entscheider fänden, dieVerantwortung für die Brexit-Entscheidung übernehmen wollten. Zu dem „America first“-Mantra des amerikanischen Präsidenten wollte Lammert schweigen, „weil mir nichts einfällt, das ich öffentlich äußern kann“. Leider sei dies zur Nationalhymne von immer mehr europäischen Staaten geworden, „eine theatralische Pose zur Selbstabdankung der Bürger“.
Lammert trug 60 Minuten in freier druckreifer Rede vor, oft von spontanem Beifall unterbrochen, den er durch gut orchestrierte Sprechpausen herausforderte. Und wie der Schlussbeifall zeigte, hatte er das Publikum von der Notwendigkeit, Europa neu zu denken, überzeugen können.