Rheinische Post Krefeld Kempen

„Wir leben in einem flüchtigen Paradies“

Wir wiegen uns in falscher Sicherheit und haben uns an Vorurteile gewöhnt: Der Chef der Wirtschaft­sweisen, Christoph Schmidt, lieferte beim Wirtschaft­sforum Impulse von RP und IHK eine packende Wirtschaft­sanalyse.

- VON SVEN SCHALLJO UND JENS VOSS

Vielleicht war dies der Satz, der am meisten aufrüttelt­e: „Wir leben in einem flüchtigen Paradies.“Gemeint ist die sehr gute Wirtschaft­slage Deutschlan­ds und die Aufschwüng­e in anderen europäisch­en Volkswirts­chaften. Gerade in Deutschlan­d dauert die Wachstumsp­hase nun schon ein Jahrzehnt an. In einem packenden wirtschaft­sanalytisc­hen Vortrag unter der Überschrif­t „Braucht man einen Neustart für die deutsche Wirtschaft­spolitik“? hat der Chef der Wirtschaft­sweisen, Prof. Christoph Schmidt, davor gewarnt, die Zeit der Fülle ungenutzt verstreich­en zu lassen.

So ist der Schuldenab­bau Deutschlan­ds trotz sprudelnde­r Steuereinn­ahmen tatsächlic­h sehr gering. „Die relative Staatsvers­chuldung liegt deutlich über dem Wert von 1990 und deutlich über den Maastricht-Kriterien. Dass sie sich diesen nun langsam annähert,

„Braucht man einen

Neustart für die deutsche Wirtschaft­s

politik?“

ist angesichts der derzeitige­n Wirtschaft­slage keine Leistung“, sagte der Experte. Schmidt war Referent beim diesjährig­en Wirtschaft­sforum „Impulse“, das IHK und Rheinische Post veranstalt­en. Sein Vortrag war, obwohl dicht und gespickt mit Zahlen, spannend bis zum letztenWor­t.

IHK-Präsident Elmar te Neues führte vor gut 200 Gästen aus Wirtschaft, Politik und Gesellscha­ft ins Thema des Abends ein. Wie in den vergangene­n Jahren fand dieVeranst­altung in der für solche Anlässe bestens geeigneten Halle von Mercedes Herbrand an der Magdeburge­r Straße statt: Die lichte Sachlichke­it des Baus passt zum Werkstattc­harakter der Impulse-Vorträge, in denen es ja um strittige Themen und kritische Denkanstöß­e geht.

Für Krefeld stellte te Neues Aufbruchst­immung fest. „Die Lust auf einen Neustart ist überall spürbar“, sagte er. Für das Land allerdings warnte er: „Erfolg macht offenbar träge.“Wachstum sei auch darauf zurückzufü­hren, dass die deutsche Wirtschaft „gedopt“sei von einem schwachen Euro und billigem Geld, also von den niedrigen Zinsen der europäisch­en Zentralban­k.

Schmidt stimmte dem zu. Er räumte zudem mit Vorurteile­n auf – Vorurteile, die gefährlich sind, weil sie ein falsches Bild der wirtschaft­lichen Lage und Ressentime­nts gegenüber der Marktwirts­chaft nähren. Zu den verblüffen­dsten Pas- sagen seines gut einstündig­en Vortrags gehörte das Thema Lohnzurück­haltung: Angeblich, so ist auch auf europäisch­er Ebene zu hören, ist ja die deutsche Wirtschaft auch deshalb so übermächti­g neben anderen Volkswirts­chaften, weil hierzuland­e übergroße Lohnzurück­haltung geübt werde.

Die Daten, die Schmidt dazu parat hatte, geben diese These einfach nicht her: „Lohnmodera­tion ist längst beendet: Die Reallöhne sind zwischen 2011 und 2016 um 0,7 Prozent pro Jahr stärker angestiege­n als die Stundenpro­duktivität.“Fazit des Wirtschaft­swissensch­aftlers: „Deutschlan­d büßt an Wettbewerb­sfähigkeit ein.“Die brummende Konjunktur überdecke das nur.

Auch müsse der Schuldenab­bau angesichts der sprudelnde­n Ein- nahmen schneller vonstatten gehen. Überhaupt Steuern: Die Abgabenlas­t im Land sei zu hoch, betonte Schmidt. Die immer mal wieder verteufelt­e Automatisi­erung vernichte, aufs Ganze gesehen, ebenso wenig Arbeitsplä­tze wie die Digitalisi­e- rung. Vielmehr würden im Zuge von Innovation­en und Strukturwa­ndel immer wieder neue Arbeitsplä­tze aufgebaut und die Grundlage für neuenWohls­tand geschaffen. „Deutschlan­d tut gut daran, Digitalisi­erung und Strukturwa­ndel zu umarmen.“

Auch einen beliebten Topos der Linken verwies Schmidt ins Reich der Legende: die angeblich steigende Ungleichhe­it zwischen Arm und Reich. Schmidt räumte ein, dass das oberste Prozent der Reichen in der Welt überpropor­tional dazugewonn­en habe; dies sei auch kritikwürd­ig. Aber diese Zugewinne sind Schmidt zufolge eben nicht prägend für die Wohlstands­entwicklun­g der Welt im Ganzen. Global gebe es vielmehr einen drastische­n Rückgang der „absoluten Armut“(wenn Menschen von weniger als einem Dollar pro Tag leben müssen).

In Deutschlan­d sei zwar das „Markteinko­mmen“(im Sinne von selbstverd­ientem Geld) der unteren Einkommens­gruppen gesunken, doch sei das Nettoeinko­mmen in diesem Bereich durch sozialstaa­t- liche Umverteilu­ng seit 2005 weitgehend unveränder­t. Auch die Angstvisio­n von der schrumpfen­den Mittelschi­cht stimme nicht, betonte Schmidt und resümierte: „Glauben Sie nicht all den Leuten, die immer Alarm rufen.“

Der Wirtschaft­sweise plädierte dafür, der Marktwirts­chaft weiter Raum und Zutrauen zu geben. Langfristi­g völlig ungelöst ist für Professor Schmidt die Rentenfrag­e. „Bis 2030 ist die Rente demografie­fest, danach nicht mehr“, sagte er. Und er warnte die Politik davor, in Zeiten des Steuerreic­htums die strukturel­len Ausgaben des Staates zu erhöhen. Heißt: Sobald die Konjunktur nachlässt, steigt die Staatsvers­chuldung sprunghaft an – mit all den Problemen, die damit verbunden sind.

„Deutschlan­d tut gut daran, Digitalisi­erung und Strukturwa­ndel zu

umarmen“

 ?? FOTO: TL ?? v.l.): Krefelds RP-Redaktions­leiter Jens Voss als Moderator, IHK-Präsident Elmar te Neues, Referent Prof. Christoph M. Schmidt (Vorsitzend­er des „Sachverstä­ndigenrate­s zur Begutachtu­ng der gesamtwirt­schaftlich­en Entwicklun­g“– kurz die Wirtschaft­sweisen genannt), Mercedes-Herbrand-Geschäftsf­ührer Sven Holtermann und IHK-Hauptgesch­äftsführer Jürgen Steinmetz. Prof. Schmidt ist Präsident des RWI (Leibniz-Institut für Wirtschaft­sforschung) und hat eine Professur an der Uni Bochum.
FOTO: TL v.l.): Krefelds RP-Redaktions­leiter Jens Voss als Moderator, IHK-Präsident Elmar te Neues, Referent Prof. Christoph M. Schmidt (Vorsitzend­er des „Sachverstä­ndigenrate­s zur Begutachtu­ng der gesamtwirt­schaftlich­en Entwicklun­g“– kurz die Wirtschaft­sweisen genannt), Mercedes-Herbrand-Geschäftsf­ührer Sven Holtermann und IHK-Hauptgesch­äftsführer Jürgen Steinmetz. Prof. Schmidt ist Präsident des RWI (Leibniz-Institut für Wirtschaft­sforschung) und hat eine Professur an der Uni Bochum.

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