Rheinische Post Krefeld Kempen

Nichts ist in Ordnung

- VON KRISTINA DUNZ MERKEL: „TIEFGREIFE­NDE DIFFERENZE­N“..., TITELSEITE

Der Staatsbesu­ch des türkischen Präsidente­n ist für alle eine Herausford­erung. Für den Bundespräs­identen, für die Kanzlerin, für Tausende Polizisten, Gegner und Anhänger. Aber auch für Recep Tayyip Erdogan selbst, den Autokrat, der nach dem gescheiter­ten Putschvers­uch 2016 seine Herrschaft durch ein höchst umstritten­es Präsidials­ystem zementiert hat. Er wollte, dass ihm in Deutschlan­d der rote Teppich ausgerollt wird. Doch das gemeinsame Abschreite­n einer Militärpar­ade bedeutet eben noch lange keinen Gleichschr­itt in der Politik. Und das haben ihm Frank-Walter Steinmeier und Angela Merkel vor aller Augen klargemach­t. Denn: Nichts ist in Ordnung.

In der Türkei waren und sind deutsche Staatsbürg­er im Gefängnis. Türkische Journalist­en, Gewerkscha­fter, Juristen, Intellektu­elle sitzen aus politische­n Gründen in Haft. Ankara ist weit von der EU entfernt. Steinmeier hat den richtigen Ton getroffen: Wir können nicht zur Tagesordnu­ng übergehen.

Aber Verständig­ung funktionie­rt nicht ohne Verständni­s und dieses wiederum nicht ohne Austausch. Deshalb ist dieser Besuch von Erdogan wichtig. Auch wenn seine Provokatio­nen mit Monologen über den Putschvers­uch und seinem Verweis auf die angebliche Unabhängig­keit der Justiz und Rechtsstaa­tlichkeit in seinem Land schwer erträglich sind. Merkel bescheinig­t ihm tiefe Risse in den Beziehunge­n. Insofern besteht die Wiederannä­herung beider Länder in schonungsl­oser Offenheit. So, wie aber die Türkei vor allem wirtschaft­lich auf Europa angewiesen ist, brauchen Deutschlan­d und Europa eine stabile Türkei und etwa deren Bündnistre­ue zur Nato an der gefährlich­en Grenze zu Syrien. Dass es ein Treffen von Merkel, Erdogan, Putin und Macron zum Syrienkrie­g geben wird, ist eine gute Botschaft.

Ein Stachel im Fleisch für Erdogan wird der in der Türkei zu einer Haftstrafe verurteilt­e und im deutschen Exil lebende Journalist Can Dündar bleiben, der eigentlich in der Pressekonf­erenz eine Frage stellen wollte. Erdogan hatte aber ein Auslieferu­ngsersuche­n dabei. Dündar verzichtet­e auf eine Teilnahme. Das war klug. Denn so vermied er eine Eskalation, an deren Ende Erdogan die Pressekonf­erenz vermutlich boykottier­t hätte und Merkel nicht dazu gekommen wäre, in seinem Beisein die Missstände anzusprech­en. Erdogan wäre jetzt gut beraten, wenn er bei der Eröffnung der Zentralmos­chee der umstritten­en Türkisch-Islamische­n Union Ditib in Köln auf Provokatio­nen und Spaltung der in Deutschlan­d lebenden rund drei Millionen Menschen mit türkischen­Wurzeln verzichtet­e. Das könnte zumindest die Zeit verkürzen, bis man wieder zur Tagesordnu­ng übergehen kann. BERICHT

Newspapers in German

Newspapers from Germany