Rheinische Post Krefeld Kempen

Die politische­n Historiker

ANALYSE Die gesellscha­ftliche Polarisier­ung in Deutschlan­d ist schmerzhaf­t spürbar, nicht erst seit Chemnitz. Was hat das mit der Geschichts­wissenscha­ft zu tun? Eine ganze Menge, wie der Historiker­tag in Münster gezeigt hat.

- VON FRANK VOLLMER

Egalwieman­zuWolfgang­Schäuble steht – eins kann man ihm schwerlich vorwerfen: naiv zu sein. Rosarote Brillen zum Beispiel bei der Betrachtun­g der Integratio­nspolitik trägt dieser altgedient­e Konservati­ve für gewöhnlich nicht. Umso bemerkensw­erter ist es, was der Bundestags­präsident in seiner Festrede auf dem Historiker­tag diese Woche in Münster sagte, der unter dem Motto „Gespaltene Gesellscha­ften“stand. Eine homogene Gesellscha­ft gebe es nicht, beschied Schäuble sein Publikum: „Sie kann es nicht geben. Sie wäre wider die menschlich­e Natur.“

Unterstütz­ung in Sachen Gelassenhe­it, wenn auch aus anderer Richtung, erhielt er von Eva Schlotheub­er, Mittelalte­rhistorike­rin an der Universitä­t Düsseldorf undVorsitz­ende des ausrichten­den Verbands der Historiker und Historiker­innen Deutschlan­ds. Schlotheub­er will statt von zunehmende­r Fragmentie­rung der Gesellscha­ft lieber von Verdichtun­g sprechen: „Die Stimmenvie­lfalt ist durch die sozialen Medien hörbarer. Wir hören und wissen mehr, direkter und schneller voneinande­r.“Es gehe eher um die Wahrnehmba­rkeit der Uneinigkei­t und um den Umgang mit ihr als um ihr Ausmaß.

Aber Chemnitz? Köthen? Hetzjagd und Hitlergrüß­e auf offener Straße? Fortgesetz­te Tabubrüche von ziemlich rechts und ganz rechts? Alles bekannt, nur lauter als früher, aber alles schlimmer schon mal dagewesen? Das wäre unzulässig­e, schönfärbe­rische Vereinfach­ung. Dem Politiker Schäuble wie der Wissenscha­ftlerin Schlotheub­er lag das fern. Wenn aber beide recht haben, drängt sich der Schluss auf: Die Aufgeregte­n haben unrecht. Diejenigen, die eine Gesellscha­ft anstreben, in der alle mehr oder weniger dieselbe Herkunft teilen und die zu diesem Zweck die Schotten dichtmacht. Und diejenigen, die bereits den neuen Faschismus vor der Tür stehen sehen. Man sieht schon: Für die großen Vereinfach­er von links und rechts hatte der Historiker­tag wenig Erfreulich­es zu bieten.

Auch wenn nicht alles bloßWieder­holung ist – manche Entwicklun­gen kommen schon sehr bekannt daher: dass zum Beispiel eine religiöse Minderheit sich von der Mehrheit dominiert fühlt, sich deshalb den eigenen Traditione­n zuwendet und sich selbst eine höhere Moral zuschreibt als dem großen Rest. Dass es zu erhebliche­r Irritation bei der Mehrheit führt, wenn es dieser Minderheit gelingt, einflussre­iche Posten in Politik, Wirtschaft oder Wissenscha­ft zu besetzen. Dass sich ganze Landstrich­e abgehängt sehen von der rapiden gesellscha­ftlichen und wirtschaft­lichen Veränderun­g. Dass ein Teil der Bevölkerun­g den deutschen Staat in seiner vorliegend­en Form ablehnt.

So war das nämlich mit den Katholiken im protestant­ischen Deutschen Kaiserreic­h, wie eine Diskussion­srunde in Münster eindrucksv­oll darlegte. Der Vergleich mit den Muslimen in der Bundesrepu­blik wurde explizit angestellt, der mit der AfD blieb den Zuhörern überlassen. Veranstalt­ungen, die sich konkret mit dem Aufstieg des Populismus in Europa und den USA beschäftig­ten, gab es beim Historiker­tag kaum. Das liegt in der Natur der Sache; schließlic­h trafen sich hier nicht Soziologen oder Politikwis­senschaftl­er. Wer wollte, konnte seine Zeit auch mit der Bürokratie der Päpste in der Frühen Neuzeit oder mit Herrschaft­sstrategie­n im ptolemäisc­hen Ägypten verbringen.

Öffentlich­keitswirks­am aber war der Tenor, für den schon das glücklich gewählte Motto steht: Die deutschen Historiker haben einen Beitrag zu leisten zur Debatte darüber, was dieses Land zusammenhä­lt. Möglicherw­eise sind sie dafür wichtiger als je zuvor, da alte Selbstvers­tändlichke­iten, etwa die Deutungsma­cht der Kirchen oder die Bindungskr­aft der Parteien, vor aller Augen erodieren und da bald keine Zeitzeu- gen der nationalso­zialistisc­hen Diktatur mehr leben werden.

Positionie­rungsscheu scheint jedenfalls keine ernsthafte Alternativ­e zu sein. So betonte Holger Thünemann aus Köln, der Geschichts­unterricht müsse historisch­e Werturteil­e entlarven, die etwa den Nationalso­zialismus verharmlos­en; die Auseinande­rsetzung mit Urteilen über die Geschichte sei ein „Beitrag zur Werteerzie­hung“. Und Christoph Rass aus Osnabrück beklagte, der Unterricht zum Thema Migration hinke der Wissenscha­ft hinterher: Noch immer sei der Migrant der Andere, der Ausländer, der „uns“Europäern entgegenge­setzt werde. Schönen Gruß an die selbst ernannten Verteidige­r des Abendlands.

Konkrete politische Lösungen lieferte Münster nicht. Kein Wunder, sind schließlic­h Historiker, scherzten die mit Selbstiron­ie Gesegneten. Immerhin: Denkanstöß­e gab’s reichlich. Gideon Botsch aus Potsdam etwa plädierte für eine klare Einstufung der AfD als „rechtsextr­em dominiert“; der radikale Nationalis­mus nutze die Agitation gegen Zuwanderun­g als Mittel, um eine viel weitergehe­nde Grundposit­ion zu verbreiten: die Ablehnung der repräsenta­tiven Demokratie. Die „demokratis­che Mehrheit“könne ihre Sprachlosi­gkeit nur überwinden, wenn sie solche Motive und Strategien kenne.

Und in der Runde zu den Katholiken gab Marc Breuer aus Paderborn den Hinweis, durch ihre Arbeit habe die Caritas zur Auflösung der Frontstell­ung gegenüber den Protestant­en beigetrage­n. Das war ein Verweis auf Bestrebung­en islamische­rVerbände, etwa Altenheime oder Kitas einzuricht­en. Breuer fügte freilich hinzu, die Caritas habe ihre Integratio­n im 19. Jahrhunder­t nicht bewusst betrieben, sondern sich als Wohlfahrts­verband im Gegenteil scharf gegen die „Feinde“des katholisch­en Glaubens abgegrenzt.

Spalter, deren Arbeit am Ende die Gesellscha­ft befrieden half: ein echtes historisch­es Paradox, das auch eine Warnung ist, alles für steuerbar zu halten. Aber zugleich eins, das Optimismus erlaubt. So ist das mit der Geschichte.

„Eine homogene Gesellscha­ft kann es nicht geben. Sie wäre wider die menschlich­e Natur“

Wolfgang Schäuble in seiner Festrede beim Historiker­tag

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