Rheinische Post Krefeld Kempen
Tanzen am Abgrund
Die 1920er Jahre sind gefragt – und das nicht nur als Serienstoff. Es gibt Charleston-Tanzkurse, Restaurants im Stil der Zeit und eine eigene Partyreihe. Die kurze Zeit des Aufbruchs zwischen den Weltkriegen fasziniert noch heute die Menschen.
DÜSSELDORF In der Nacht lockt die Ekstase. Die Menge drängt sich ins „Moka Efti“. Der Absinth fließt, die Hemmungen fallen. Mittendrin: Charlotte Ritter, am Tag Stenotypistin in der Mordinspektion. Doch nun gilt ihre ganze Aufmerksamkeit einer androgynen Schönheit. Die Sängerin Nikoros betritt die Bühne, die Menge wird zum Spielball ihrer Stimme. Die Tanzfläche ist ein einziger Charleston-Rausch.
Eine Folge der Serie „Babylon Berlin“, die das Erste am Sonntagabend zeigt, endet so, wie sich viele Menschen heute die Goldenen Zwanziger vorstellen. Die Hauptstadt feiert am Abgrund, mit Drogen und viel nackter Haut. „Die Zeit wird natürlich auch verklärt. Sie hatte ihre Gegensätze“, sagt„Miss Mephi“. Unter diesem Namen bietet die Tanzlehrerin in Düsseldorf Charleston-Kurse an. „Für Frauen heute stehen die Zwanziger für eine damals neue Freiheit. Die Röcke wurden kürzer, die Haare abgeschnitten. Frauen tranken und rauchten öffentlich. Dieses Kesse und Mutige dieser Zeit – da habe ich Respekt vor“, sagt sie.
Der US-amerikanische Gesellschaftstanz Charleston wurde in Europa vor allem durch Josephine Baker bekannt. Er ist extrem schnell und galt in den Zwanzigern als Provokation. „Zu mir kommen vor allem Frauen und Männer, die Solo-Charleston lernen möchten“, sagt Miss Mephi. „Das war etwas ganz Neues, sich vom Partner zu lösen, um alleine zu tanzen.“Wer Charleston lernt, möchte sich auch gerne auf Partys ausprobieren. Doch leben Miss Mephis Tanzschüler im 21. Jahrhundert, in den Clubs dominiert die elektronische Musik. Die Möglichkeiten sind dünn gesät.Was bleibt, sind private Partys und zwei Mal im Jahr die Fahrt nach Köln, zur „Bohème Sauvage“.
„Else Edelstahl“, auch so ein Künstlername, veranstaltet die Partys im Stil der Zwanziger Jahre. Sie hat diese Woche viel zu tun, Dienstag war sie bei der Premiere von „1929 – Das Jahr Babylon“im Einsatz. Die Dokumentation wird am Sonntag im Ersten gezeigt – im Anschluss an die ersten „Babylon Berlin“-Folgen. „Ich habe mich schon immer gerne verkleidet und mit 14, 15 Jahren dann sehr für Geschichte interessiert“, sagt Edelstahl. Zuerst galt ihre Faszination dem Mittelalter, dann dem Barock und Rokoko. Bis ihr ein Buch über „Pariser Salons“in die Hand fiel. Wohlhabende und gebildete Frauen luden dort zu gesellschaftlichen Diskussionen, Lesungen und Musik. „So etwas wollte ich auch machen“, sagt sie.
Also lud Edelstahl ihre Freunde ein. „Junge Wilde, die Spaß am Verkleiden hatten“, wie sie sagt. Dass der Salon im Jahr 1924 spielte, war praktischen Gründen geschuldet. Das Thema passte gut zu Berlin, und der Stil war leicht zu erfüllen. Die Liebe begann erst danach. „Ich habe alles aufgesogen“, sagt Edelstahl. „In Berlin spürt man an vielen Ecken noch den Geist von damals.“Sie wiederholte regelmäßig den Salon, das Interesse wuchs. Immer wieder kamen neue Debütanten hinzu. 2006 wechselte Edelstahl in den Club eines Bekannten. Aus der „Bohème Sauvage“wurde ein öffentliches Event, eine Hommage an die Zeit.
„Das ist eine hinreißende Veranstaltung. Da kommen Sie in normaler Alltagskleidung oder im Karnevalskostüm gar nicht rein“, sagt Miss Mephi. Am 3. November gastiert die Partyreihe bereits zum 24. Mal in Köln, in Berlin findet dieses Jahr sogar die 100. Bohème statt. Nebenher organisiert Edelstahl über ihre Event-Agentur Firmenfeiern im Stil der Zwanziger und besitzt einen Kostümverleih. „Die Mode der Zeit ist großartig“, sagt sie. „Herrenmode zu tragen, mit Frack und Zylinder, das gefällt mir – auch als Frau.“
Das Interesse an der Zeit hat viel mit Film und Fernsehen zu tun. Serien wie „Boardwalk Empire“und „Peaky Blinders“machten die Zuschauer neugierig auf die wilden Zwanziger. Den größten Einfluss hatte allerdings die Literaturverfilmung „Der große Gatsby“mit Leonardo DiCaprio. „Durch den Film hat sich viel bewegt, aber da war kein Deutschland-Bezug. Das Schöne an ‚Babylon Berlin‘ ist, dass es hier spielt“, sagt Edelstahl. Sie erhofft sich von der Serie einen neuen Aufmerksamkeitsschub.
Während Miss Mephi bislang noch keinen Blick auf„Babylon Berlin“werfen konnte, hat Else Edel- stahl die Serie schon gesehen. „Die Story ist natürlich ein wenig wild, aber die Ausstattung ist sehr, sehr gut. Da war ich positiv überrascht“, sagt sie. „Allerdings ist die Musik nicht sehr authentisch. Der Titelsong ist zwar sehr gut, aber doch eher ein 50er Jahre-Schlager im Stil einer Hildegard Knef.“
Ein wenig authentischer geht es da am Samstag zu, wenn Edelstahl in Berlin zu ihrer nächsten „Bohème Sauvage“einlädt. Schallplattenunterhalter, Liveband und Burlesque-Tänzerin inklusive. Dann geht es wohl nicht ganz so verrucht wie in der Serie zu, doch auch bei Edelstahl wird es gerne einmal etwas wilder. „Bei unseren Partys wird viel getanzt und geknutscht. Durch den besonderen Rahmen sind die Gäste auch lockerer, trauen sich eher, jemanden anzusprechen“, sagt sie.
Miss Mephi vertreibt sich parallel die Wartezeit auf die nächste Kölner Bohème im„Grande Etoile“. Das Düsseldorfer Restaurant ist ganz im Stil der Goldenen Zwanziger gehalten. In edler Salon-Atmosphäre werden dort Pizzen, Spätzlegerichte und Salate gereicht. Am Samstag mischt sich Miss Mephis Tanzkurs unter die Essensgäste und improvisiert seinen eigenen kleinen Salonabend.