Rheinische Post Krefeld Kempen

Das Ende einer Institutio­n

Der Fischer Weltalmana­ch fehlte früher auf keinem Büro-Schreibtis­ch. Im September erschien die letzte Ausgabe.

- VON MARTIN KESSLER

FRANKFURT Es war ein Schock für die akademisch­eWelt, als der Großverlag Bertelsman­n im Jahr 2013 verkündete, den Brockhaus einzustell­en. Eine Welt ohne das renommiert­este Nachschlag­ewerk des deutschen Bürgertums, das konnten sich viele Gebildete nicht vorstellen. Doch im Zeitalter des Internets erlitt der Brockhaus nur das gleiche Schicksal wie so viele gedruckte Enzyklopäd­ien, die aufwendig zusammenge­stellt, von bezahlten Autoren geschriebe­n und zum Erscheinun­gstermin bereits veraltet sind.

Jetzt hat es mit dem Fischer Weltalmana­ch auch den letzten Vertreter dieser Art erwischt. Ausgerechn­et nach der 60. Auflage des Zeiten des Internets, selbst wenn die Auflage auf zuletzt 50.000 zurückging. Noch bis ins vergangene Jahr hinein belegte das Nachschlag­ewerk in den Sachbuch-Bestseller­listen den Rang neun. Nicht schlecht, aber zu wenig zum Überleben. Denn auch die anderen Sachbücher tun sich schwer, gegenüber dem schier endlosen Angebot aus dem Internet zu bestehen.

Dabei löste der Fischer Weltalmana­ch selbst eine kleine Revolution aus, als er im Dezember 1959 zum ersten Mal erschien. DasVerlege­rpaar Brigitte und Gottfried Bermann Fischer hatten die Idee aus ihrem amerikanis­chen Exil mitgebrach­t. Dort erzielte der „World Almanac“jedes Jahr Verkaufsre­korde, und dieses Geschäftsm­odell hielten die beiden Inhaber des Fischer-Verlags auch in Deutschlan­d für aussichtsr­eich.

Und sie hatten noch mehr im Sinn. „Es ging um eine Demokratis­ierung des Wissens, gerade durch Taschenbüc­her“, erinnert Sachbuchch­efin Sillem an die Intentione­n des Verlegerpa­ars, die als Juden aus Nazi-Deutschlan­d in die USA geflohen waren. Entspreche­nd ehrgeizig war das Ziel der neuen Reihe. „Der Weltalmana­ch ist ein Versuch, dem politisch, wirtschaft­lich und kulturell Interessie­rten eine verlässlic­he Gedächtnis­stütze zu sein, ihm Tatsachen in Erinnerung zu bringen, künftige Entwicklun­gen anzudeuten und Zahlen, Daten und Fakten zur Verfügung zu stellen.“So hieß es imVorwort zur ersten Ausgabe. Dort standen dann alle wichtigen Ereignisse, Statistike­n und Informatio­nen zum abgelaufen­en Jahr – Schwerwieg­endes wie die Weltchroni­k, die Daten der Weltwirtsc­haft oder die Ereignisse bei der Erkundung des Weltraums, aber auch Skurriles wie die Adresse des Bundesverb­ands der Mopedfahre­r oder die Tatsache, dass man einem Portier in Dänemark 50 Öre an Trinkgeld zustecken sollte.

Kern des Jahrbuchs ist die Übersicht über Ereignisse und Fakten aller Länder der Erde. Im ersten Band waren es noch 89 souveräne Staaten, in der letzten Ausgabe ist diese Zahl auf 196 Länder angewachse­n. Es war eben jener Drang nach Weltwissen in der noch jungen Bundesrepu­blik, der den ökonomisch­en Erfolg des Projekts begründete. Bis 1979 schrieb der Geograf Gustav Fochler Hauke denWeltalm­anach allein, telefonier­te und recherchie­rte die Daten, besuchte weltweit Bibliothek­en oder schrieb an Botschafte­n und internatio­nale Institutio­nen. Die letzte Ausgabe betreuten zwölf Autoren, darunter Wissenscha­ftler und Wissenscha­ftsjournal­isten.

„Wir haben den Weltalmana­ch über die Jahre immer weiterentw­ickelt“, sagt Christin Löchel, die bislang die Redaktion des Jahrbuchs leitete. Zentraler Grundsatz war die Gründlichk­eit und Verläss- lichkeit der Daten, die Seriosität der Quellen und statistisc­hen Verfahren, die internatio­nale Vergleichb­arkeit. Es ist das Verspreche­n nach gleichblei­bender Qualität, was den Weltalmana­ch auszeichne­te. Das ist im zentralen Nachschlag­ewerk des Internets, Wikipedia, nicht immer gegeben. Neben hervorrage­nden Fachartike­ln stehen oft fehlerhaft­e und auch veraltete Einträge, weil aktuelle Zahlen und Ereignisse nicht mehr nachgetrag­en werden.

Doch das ist nun Geschichte.„Was wird denn jetzt aus meinen Ländern?“fragt die Weltalmana­ch-Autorin Gabriele Intemann, die sich akribisch um Länder wie Deutschlan­d, Frankreich, Italien,

Österreich und die Schweiz kümmerte. Vielleicht bleibt den 60 Jahresbänd­en ein antiquaris­cher Wert. Der älteste für 1960 kostet schon jetzt 50 Euro, wenn man ihn über den Internet-Buchhändle­r Amazon bestellen will. Der neue ist noch für 22 Euro zu haben.

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FOTO: S. FISCHER VERLAG Die ganze Welt des Fischer Almanachs.

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