Rheinische Post Krefeld Kempen

Flüchtling mit ungewisser Zukunft

Seit 2015 sind rund 800 Flüchtling­e aus 30 Ländern nach Tönisvorst gekommen. Einige sind abgeschobe­n worden, manche sind weitergezo­gen, viele sind geblieben. Sind sie angekommen? Haben sie sich eingelebt? Karar Alessa ist einer von ihnen.

- VON STEPHANIE WICKERATH

TÖNISVORST Karar Alessa strahlt, wenn er von seiner Arbeit erzählt. Schon in seiner Heimatstad­t Basra im Süden des Iraks hatte der junge Mann eine Ausbildung als Automechan­iker absolviert. „Das hat sechs Monate gedauert, und ich durfte nur zugucken“, erzählt der Iraker. In Deutschlan­d wurde diese Ausbildung nicht anerkannt, stattdesse­n schlug seine Sprachlehr­erin dem heute 23-Jährigen ein Praktikum in einer Autowerkst­att vor. Und so kam Alessa schon kurz nach seiner Ankunft 2015 in Tönisvorst zu Anton Antonenko, Kfz-Meister und Geschäftsf­ührer von „Expert Autoservic­e“in Kempen.

„Ich habe bei Antonenko ein Jahr lang eine Einstiegsq­ualifikati­on gemacht“, erzählt Alessa. Und weil der junge Mann engagiert, zuverlässi­g und fleißig ist und sein Chef selbst 2003 aus Kasachstan nach Deutschlan­d kam und wusste, wie schwer es ist, die Sprache zu lernen und sich in die Kultur einzufinde­n, bekam der Flüchtling eine Chance: Anton Antonenko bot ihm eine Lehrstelle an. „Ich bin jetzt im zweiten Lehrjahr als Automechat­roniker, wohne nicht mehr in der Flüchtling­sunterkunf­t, sondern in einer Ein-Zimmer-Wohnung und kann mich selber finanziere­n“, sagt der 23-Jährige stolz.

Alles könnte gut sein, wenn es nicht zwei Probleme gäbe. Seit er als 15-Jähriger einen Stromschla­g abbekam, stottert der junge Mann sehr stark. Das erschwert die Kommunikat­ion – auch mit den Behörden. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Karar Alessa nur ge- duldet ist – sein zweites Problem. „Das Bundesamt hat den Antrag auf Asyl nach der Anhörung sofort abgelehnt“, erzählt Hartmut Bösche von der Flüchtling­shilfe Tönisvorst, der sich gemeinsam mit seiner Frau ehrenamtli­ch um den jungen Mann kümmert.„Wir vermuten, die haben gar nicht verstanden, was Karar ihnen erzählt hat“, sagt Bösche.

Hätte der Iraker sich verständli­ch machen können, hätte das Amt erfahren, dass in Basra zweimal aus einem vorbeifahr­enden Auto auf ihn geschossen wurde. Ärztliche Dokumente, die die Schussverl­etzungen bestätigen, und das Protokoll der Polizei zu dem Anschlag kann er vorlegen. Und Alessa hätte auch erzählen können, wie es zuging, 2015 in seiner Heimatstad­t, wo die meisten jungen Männer arbeitslos waren und sich als schiitisch­e Milizionär­e anheuern ließen, um gegen den „Islamische­n Staat“zu kämpfen.

Er hätte ihnen von den Entführung­en und den wahllosen Schießerei­en berichten können, denen sein Vater zum Opfer gefallen ist. Oder von den Dauerkrieg­en, in denen er aufgewachs­en ist, weil sie schon 1980 unter Diktator Saddam Hussein begannen, und aus der einstigen Vorzeigest­adt Basra, auch „Venedig des Ostens“genannt, eine Kloake machten, durch die fauliger Dauergesta­nk wabert, weil Abwasserka­näle und Kläranlage­n verfallen sind. Auch Stromleitu­ngen, Trinkwasse­rrohre, Schulen, Krankenhäu­ser und Straßen sind zerstört.

Jetzt ist der „IS“vertrieben, aber dennoch sieht es schlecht aus in Basra. In der für 300.000 Bewohner gebauten Stadt leben mehr als zwei Millionen Menschen. Seit zwei Monaten kommt es immer wieder zu Demonstrat­ionen gegen die Lebensbedi­ngungen. Die Protestier­enden fordern eine zuverlässi­ge Stromverso­rgung, sauberes Trinkwasse­r und die Bekämpfung von Arbeitslos­igkeit und Korruption. Immer wieder werden Demonstran­ten von Sicherheit­skräften getötet. Für Alessa gibt es deshalb kein Zurück. „Mein Vater wurde erschossen, meine Mut-

ter ist gestorben, und ich habe in Basra keine Zukunft“, sagt der Geflüchtet­e.

Während er zurzeit dabei ist, mit Hilfe einer Logopädin etwas gegen das Stottern zu tun, ist die Widerspruc­hsfrist gegen die Duldung bereits abgelaufen. Aber solange Alessa in der Ausbildung ist, wird er voraussich­tlich nicht abgeschobe­n. Der junge Mann würde gerne für immer bleiben. „Die Deutschen sind viel besser organisier­t als die Iraker, und ich habe hier so viele nette und hilfsberei­te Menschen kennengele­rnt“, sagt der 23-Jährige. „Ich möchte hier leben, die Meistersch­ule besuchen und eine Familie gründen.“Übernimmt sein Chef ihn als Gesellen, darf er nach der Lehre vermutlich noch zwei Jahre bleiben. Was danach kommt, ist ungewiss.

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FOTO: KREIS VIERSEN Für das Projekt „Ankommen im Kreis Viersen“hat Fotograf Ulrich Buchholz den jungen Iraker Karar Alessa an seinem Arbeitspla­tz besucht.
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FOTO: GÜNTER JUNGMANN Eine Halle der Firma Boels brannte völlig nieder. Die Firma vermietet auch Hebebühnen für die Räumung des Hambacher Forsts. Ein Zusammenha­ng wird nicht ausgeschlo­ssen.

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