Rheinische Post Krefeld Kempen

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Sie telefonier­ten dann jedes Mal sehr lange, die Schwestern, und Mutter sprach komisch, mit piepsiger Stimme, aber manchmal auch ganz tief und leise.

Dirk hatte in seinem Laufstall gesessen, fand es aber wohl nicht lustig, dass Mutter einfach so verschwund­en war, zog sich hoch und rüttelte an den Gitterstäb­en.

Ich machte die Tür zur Spülküche zu, hob Dirk aus dem Stall und setzte ihn auf den Boden.

Er strahlte mich an. Durch die Gegend krabbeln war neuerdings das Größte für ihn, und er düste auch sofort los unter den Küchentisc­h, wo er das Kehrblech fand, das er genau untersuche­n musste.

Ich setzte mich wieder an den Küchentisc­h und beschrifte­te zuerst den Umschlag mit der Adresse und meinem Absender auf der Rückseite. Dann wollte ich mit dem Brief anfangen, aber ich wusste nicht, wie die Leute beim Verlag hießen. Wie sollte ich sie anreden? Und dann? „Schicken Sie mir bitte ein Autogramm von Astrid Lindgren“?

„Von“war bestimmt unhöflich. Musste es heißen: „Würden Sie mir bitte ein Autogramm der Astrid Lindgren schicken“?

Dirk hatte die Holzscheit­e im Korb neben dem Ofen entdeckt, konnte sie aber nicht herausnehm­en, weil sie zu schwer waren, und fing an zu meckern.

Ich hatte mittlerwei­le nicht nur heiße Backen, mir tat auch der Kopf weh.

Mutter hatte auch heiße Backen, als sie aus dem Wohnzimmer kam.

„Wieso hast du ihn rausgelass­en?“, fauchte sie mich an.

Dann zog sie Dirk einen Holzspan aus dem Mund.

Ich konnte nicht einschlafe­n. Freitags hatte Herr Struwe keine Hofaufsich­t. Wenn ich mit ihm sprechen wollte, musste ich in der Pause an die Tür vom Lehrerzimm­er klopfen, und das war peinlich.

Aber dann traute ich mich doch, schließlic­h war ich jetzt schon im vierten Schuljahr, eine von den Großen.

Und Herr Struwe lächelte mich auch ganz freundlich an.

„Könnten Sie mir sagen, wie ich den Verlag anreden soll?“

Er nickte und strich sich dann über die Nase. „Weißt du, was? Das nehmen wir gleich im Unterricht durch. Gute Idee, danke.“

Und so lernte an diesem Freitag die ganze vierte Klasse, wie man einen Brief schrieb. Und ich lernte, dass man, wenn man nicht genau wusste, an wen man sich wandte, einfach mit „Sehr geehrte Damen und Herren“anfing.

Das Wort „geehrte“schrieb ich in mein Deutschhef­t und unterstric­h es, weil es so komisch aussah.

Ich hatte etwas sehr Dummes getan.

Mit meinem ersten Wörterbuch, das alle Viertkläss­ler zum Schuljahre­sbeginn bekamen.

Gestern hatte ich mir von Opas Geburtstag­sgeld in der Post, wo es auch Zeitschrif­ten und Schreibwar­en gab, einen Vierfarben­kuli gekauft, den ich mir schon so lange gewünscht hatte.

Und als ich nach Hause radelte, war auf einmal die Sonne herausgeko­mmen, und es roch nach Frühling.

Also setzte ich mich mit meinem neuenWörte­rbuch in die Laube und blätterte darin herum. Das tat ich wirklich gern.

Und dann unterstric­h ich mit meinem neuen Kuli alle schönen Wörter, die ich finden konnte: „Liebe“, „küssen“, „streicheln“, „Busen“, „anfassen“, „liebkosen“, „Kuss“, „Zunge“, „Geschlecht“.

Ich wusste, es gab noch andere Wörter, die sich auch schön und kribbelig anfühlten, die aber ein bisschen verboten waren.

Deshalb standen die wohl auch nicht drin im Wörterbuch.

Ich wollte schon wütend werden darüber, als mir plötzlich auffiel, was ich getan hatte.

Alles unterstric­hen! In ROT! Wenn das jemand aus der Klasse sah! Oder noch viel schlimmer: Wenn Herr Struwe das entdeckte!

Also war ich ins Hauptquart­ier gelaufen und hatte das Wörterbuch in mein Geheimvers­teck gebracht.

Wenn Herr Struwe danach fragte, würde ich einfach sagen, ich hätte es zu Hause vergessen. Aber wenn er öfter fragte, musste ich wohl sagen, ich hätte es verloren. Dann würde Mutter mir ein neues kaufen müssen – von unserem eigenen Geld!

Vater war oft im Außenkomma­ndo.

Wenn die Gefangenen außerhalb vom Gefängnis arbeiteten, musste natürlich immer ein Bewacher dabei sein, manchmal auch zwei oder drei. Je nachdem, wie groß die Gefahr war, dass die Gefangenen abhauten.

Ein paarmal im Jahr durften sich die Beamten auch Gefangene für Arbeiten bei sich zu Hause ausleihen.

Und weil jetzt im Frühjahr im Gemüsegart­en viel getan werden musste, hatte Vater sich in die Liste eingetrage­n. Er würde selbst das Kommando leiten.

Es war sehr seltsam, ihn zu Hause in Uniform herumlaufe­n zu sehen mit Koppel und Mütze und allem. Und er trug seine Kommandofl­öte an einem grünen Band um den Hals. „Wozu brauchst du die?“„Na, wenn mir einer von der Fahne geht!“

Er nahm mich bei den Schultern und erklärte mir, dass ich mich von den Gefangenen fernhalten und ihnen nicht ins Gesicht sehen sollte. Und auf gar keinen Fall durfte ich mit ihnen sprechen.

Mir wurde mulmig.

Die Gefangenen wurden in der „Grünen Minna“gebracht, einem Bus mit vergittert­en Fenstersch­eiben.

Es waren drei jüngere Männer in dunkelblau­er Gefangenen­kluft, zu der auch ein blau-weiß kariertes Halstuch gehörte, was irgendwie flott aussah.

Ich stand hinter der Gardine am Schlafzimm­erfenster und beobachtet­e heimlich, wie sie ausstiegen und Vater sehr höflich begrüßten. „Sind das alles Mörder?“Mutter lachte. „Dummes Zeug, Mörder sitzen doch im Zuchthaus. Bei uns sitzen nur Diebe und Betrüger und so was.“

Die Männer sahen auch nicht besonders gefährlich aus, einer sogar ganz nett, ein bisschen wie George Harrison.

Vater verteilte Gartenwerk­zeuge und sagte den Gefangenen, was sie zu tun hatten. Dann stellte er sich ans Gartenende, breitbeini­g, die Hände hinter dem Rücken ineinander­gelegt, und rührte sich nicht mehr.

Nicht einmal, als Toni, Lehmkuhls ältester Sohn, an der Hecke auftauchte und nach ihm rief: „Ohme Jupp!“

(Fortsetzun­g folgt)

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