Rheinische Post Krefeld Kempen
Römische Geschichte zum Anfassen
In Tongeren kann man sich auf die Spur en der Römer begeben. Sie gilt als älteste Stadt Belgiens. Und noch eine Stadt beansprucht diesen Titel für sich: Tournai in der Wallonie. Schön sind sie beide.
Die flämische Stadt Tongeren hat sich ihren Stadthelden nicht etwa aus einem bekannten Comic geborgt, auch wenn er so aussieht: Ambiorix gab es wirklich. Eine überlebensgroße Statue des mit Beil und buschigem Schnauzbart dargestellten Kriegers schmückt den Grote Markt. Der tapfere Gallier hatte die Römer das Fürchten gelehrt und das, obwohl er keinen Zaubertrank besaß. So kam es, dass die Eroberer eine prosperierende Siedlung gründeten, die heute als älteste Stadt Belgiens gilt.
Die zweite Stadt, die diesen Titel immer mal wieder für sich beansprucht hat, liegt im wallonischen Landesteil. In Tournai ist die römischeVergangenheit jedoch weniger sichtbar als in Tongeren, wo der kühl-moderne Bau des Gallo-Römischen Museums, die jüngst eröffnete Ausgrabungsstätte unter der gotischen Basilika sowie Teile der römischen Stadtmauer Einblicke in die 2000-jährige Geschichte bieten.
Das Bild der Stadt an der französischen Grenze wird beherrscht von historischen Türmen. Gleich fünf weist die Tournaier Kathedrale auf. Dra- matisch erhebt sich auch der gotische Hochchor und der 72 Meter hohe Belfried. Der frei stehende Glockenturm, Ausdruck bürgerlichen Selbstbewusstseins, wurde um das Jahr 1200 errichtet. Beide Gebäude wurden von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt.
Auch Tongeren kann mit Welterbe aufwarten. Das frühere Zuhause frommer, alleinstehender Frauen ist ein begehrtes Wohnviertel. Der einstige Beginenhof mit seinen Häusern, die meist aus dem 18. Jahrhundert stammen, bietet stimmungsvolle Impressionen – abgesehen von den parkenden Pkw. Das früher abgetrennte Wohngebiet ist längst integriert – einschließlich des Hospizes, in dem die Kranken gepflegt wurden. Heute finden in der stilvollen Brasserie Durstige und Hungrige Labsal.
Tongeren ist so etwas wie das Zentrum desWeinbaus in Flandern. Vor den Toren der Stadt liegt das neoklassizistische Wijnkasteel am Rande des Dorfes Genoels-Elderen, das größte Weingut des Landes mit herausragendem Ruf. Schon die Römer hatten dort Reben angepflanzt. Haspengau heißt die unaufgeregte, durch unzähli- ge Obstwiesen geprägte Landschaft um Tongeren.
Im Gegensatz zu Tongeren, zwischen den Metropolen Maastricht und Lüttich gelegen, hat das mit 70.000 Einwohnern mehr als doppelt so große Tournai eine merklich größere Substanz an historischen Bauten. Wer rund um die dreieckige Grand Place oder an der Schelde-Promenade spaziert, wird jedoch die vielen „A Louer“- und „A Vendre“-Schilder bemerken. Selbst
historische und frisch restaurierte Gebäude suchen nach neuen Nutzern.
Dass heute Menschen verschiedener Herkunft in den Cafés und Kneipen bei Kaffee und Bier zusammen sitzen, hängt auch mit einem frühen Bewohner Tournais zusammen. Der Merowingerkönig Chlodwig I. leitete von Tournai ein Kleinfürstentum. Durch erfolgreiche Eroberungszüge und seinen Übertritt zum Christentum erreichte er etwas, das man als erste europäische Einigung bezeichnen könnte. Als Gründer Frankreichs besetzt er jedenfalls einen Ehrenplatz im Pariser Pantheon.
Der berühmteste Sohn der Stadt ist gleichzeitig einer der bedeutendsten Maler des Spätmittelalters: Rogier van der Weyden, der hier de la Pasture mit Nachnamen heißt. Eine Skulptur an der Kathedrale, die ihn beim Porträtieren einer Muttergottes mit Kind zeigt, lädt Besucher dazu ein, das Musée des Beaux-Arts zu besuchen. Der klotzige Bau des eigentlich für seinen Jugendstil bekannten Architekten Victor Horta hütet – neben Bruegels, Manets und van Goghs – den Schatz eines bewegenden Marienbildnisses van derWeydens.
In Tongeren dagegen wird Geschichte an jedem Sonntag lebendig. Ausnahmsweise mal nicht die römische. Beim größten Antiquitätenmarkt der Benelux-Länder reiht sich Stand an Stand. Ob Stadtmauer oder Tiefgarage – jeder Ort scheint als Stellplatz willkommen. Rund 40 Antikläden, die meist nur amWochenende öffnen, gibt es noch obendrauf. Da bleiben Ambiorix und den Römern nur Nebenrollen.