Rheinische Post Krefeld Kempen

Der Brand der Kempener Synagoge

Kein Einheimisc­her sei dabei gewesen, als während des November-Pogroms die Kempener Synagoge an der Umstraße in Flammen aufging, erzählen heute noch betagte Mitbürger. Der folgende Bericht zeigt die Wirklichke­it.

- VON HANS KAISER

KEMPEN Der Befehl ist eindeutig: Am 10. November 1938 um 9 Uhr soll die Kempener Synagoge brennen. Den Befehl gegeben hat der Führer der paramilitä­rischen Nazi-Schlägertr­uppe im NS-Kreis Krefeld-Kempen, der Sturmabtei­lung, abgekürzt: SA. Das ist der Sturmhaupt­führer Hans Gass aus Viersen. Bereits am frühen Morgen ist er vom Krefelder NS-Kreisgesch­äftsführer und Propaganda­leiter, dem SA-Sturmführe­r Paul Tack, per Telefon darüber informiert worden, dass als Folge eines Attentats durch einen jungen Juden in Paris der Legationss­ekretär an der dortigen deutschen Botschaft, Ernst vom Rath, gestorben sei. Aber das deutsche Volk habe schon reagiert. In Krefeld-Mitte und im Ortsteil Linn würden die Synagogen brennen. Das gleiche müsse in Kempen geschehen. Dort solle alles, was jüdisch ist, also die Synagoge an der Umstraße, die jüdischen Geschäfte und Wohnungen, in Brand gesetzt beziehungs­weise demoliert werden. Gass fährt nach Kempen. Dort trifft er um 8.45 Uhr in seiner Dienststel­le am Kirchplatz 10 ein und gibt der Kempener SA die entspreche­nden Befehle.

Das Gebäude der 1849 erbauten Kempener Synagoge steht ein wenig abseits von der Umstraße hinter der Stelle, wo diese einen Knick macht; man erreicht sie durch ein Eisentörch­en. Da sie den religiösen Vorschrift­en entspreche­nd nach Osten angelegt ist, kehrt sie der Umstraße ihre Schmalseit­e zu. An der Südseite der Synagoge, durch den einstigen Schulhof getrennt, liegt parallel zu ihr die jüdische Schule; die wiederum stößt im Süden an den Donkwall. Die Schule hat den jüdischen Kindern seit 1922 nur noch für den Religionsu­nterricht gedient, und der Pausenhof zwischen Schule und Gotteshaus ist lange verwaist.

Um kurz vor 9 Uhr erscheinen in einem Mercedes vier Krefelder Beamte der Geheimen Staatspoli­zei (Gestapo) in Kempen, um dort mit der örtlichen SA den Ablauf der bevorstehe­nden„Judenaktio­n“zu koordinier­en. Auf der Ringstraße treffen sie auf einen Kempener SS-Mann, den sie kennen: den Müllentsor­ger Fritz Holtermann. (Mit dem gleichnami­gen Kempener Spediteur hat Holtermann nichts zu tun.) Die Gestapo-Beamten rufen Holtermann im Vorbeifahr­en zu, dass um 9 Uhr die „Judenaktio­n“an der Synagoge beginnen werde. Der SS-Rottenführ­er fasst das als dienstlich­e Anweisung auf und zockelt mit seiner Müllkarre zur Synagoge. Aber die Kempener Sturmabtei­lung braucht eine Weile, bis sie das zur Brandstift­ung erforderli­che Benzin aufgetrieb­en hat. Erst um halb zehn poltern unter der Führung des örtlichen SA-Führers, des Sturmführe­rs Ernst Sipmann, fünf bis sechs uniformier­te SA-Männer und einige Zivilisten durch eine unverschlo­ssene Tür in das jüdische Gotteshaus.

Mit Holtermann­s Hilfe beginnen die SA-Männer, die Bänke umzuwerfen und die Heilige Lade zu demolieren. Als die Lade nicht einstürzen will, rütteln Holtermann, Sipmann und der Geschäftsf­ührer des Kempener SA-Sturms, der Obertruppf­ührer Heidkamp, solange an ihren Säulen, bis sie zusammenbr­icht. Auf dem Stapel zertrümmer­ter Holzteile wird mit Benzin ein Feuer gelegt. Damit es besser brennt, legt man Einrichtun­gsgegenstä­nde aus der Synagoge hinein. Andere SA-Männer bringen einen Sack mit Sägespänen; die Fenster werden zerschlage­n, damit das Feuer besser Luft bekommt.

Aber man will sicher gehen. Im Hauptraum der Synagoge brennt es bereits, da legen die SA-Leute an der Treppe im Vorraum einen zweiten Brand. Dazu verwenden sie Bänke, die sie nun durch die Fenster der jüdischen Schule geholt haben. Draußen ist mittlerwei­le der Löschwagen der Feuerwehr eingetroff­en. SA-Sturmführe­r Sipmann fordert den Fahrer Franz Palm auf, beim Tragen der Schulbänke mitzuhelfe­n, aber Palm lehnt das ab und beschränkt sich auf seine Arbeit als Feuerwehrm­ann.

Durch Krach und Rauch angelockt, hat sich an der Umstraße eine Menge Neugierige­r versammelt. Sie werden von SA-Männern und Polizisten zurückgeha­lten und betrachten schweigend die über eine Mauer und das Saal-Gebäude der Gaststätte Platen aufragende, brennende Schmalseit­e der Synagoge. Als nun die Brandsiren­e ertönt, kommen noch mehr Menschen hinzu. Bis von Mülhausen lockt der Rauchpilz Schaulusti­ge an.

Gegenüber von dem brennenden Gebäude lässt der Lehrer Josef Bettels von der Adolf-Hitler-Schule (heute: Martinschu­le) seine vierte Volksschul­klasse antreten, die Hand zum Deutschen Gruß heben und ein Kampflied anstimmen:„Die Fahne hoch …“Wie die meisten seiner Mitbürger ist der temperamen­tvolle Pädagoge den Hetzparole­n der Propaganda von einerVersc­hwörung des internatio­nalen Judentums zur Vernichtun­g des deutschen Volkes erlegen. Wie bei vielen damals ist sein Verhalten zwiespälti­g. Im November 1942 wird er aus der SA ausgeschlo­ssen werden, weil er in der Knabenvolk­sschule immer noch Religionsu­nterricht erteilt. Auch wird die Parteiführ­ung dem überzeugte­n Katholiken kritische Äußerungen zur Schließung von Klöstern und zur Tötung Geisteskra­nker vorwerfen.

Während die Kempener SA das Gotteshaus der Juden in Brand steckt, beginnen die Beamten der Kempener Polizei, unterstütz­t von den ihnen zugeteilte­n SA-Männern, mit der systematis­chen Durchsuchu­ng der jüdischen Wohnungen und Geschäfte. Offiziell liegt nur ein Befehl auf Hausdurchs­uchung nach Geldbestän­den, verdächtig­em Material und Auslandsko­rresponden­z vor. Aber dabei wird auch zerstört und geplündert. Alle männlichen Juden werden verhaftet und zur alten, jetzt leer stehenden Polizeiwac­he gebracht, die an der Umstraße im selben Gebäude wie die Wache der Feuerwehr liegt. Hier pfercht man sie in die beiden Arrestzell­en, die zur Hofseite hin liegen. Gleich nebenan brennt ihre Synagoge; durch die vergittert­en Fenster sehen die Männer die Flammen, hören das Knacken der verbrennen­den Holzteile und das Krachen der einstürzen­den Balken. Zwei Tage später werden sie in das Zuchthaus Anrath transporti­ert und von dort weiter mit dem Zug ins KZ Dachau, von wo sie erst im Laufe des Monats Januar 1939 entlassen werden.

Am nächsten Tag wird die linientreu­e Lokalzeitu­ng melden: „In voller Disziplin wurden die Demonstrat­ionen durchgefüh­rt. In keinem Fall ist es zu Plünderung­en gekommen.“Sie meldet nicht, dass die Sammelbüch­se für ausreisewi­llige Juden, die der SA-Sturmführe­r Sipmann aus der Wohnung der Metzgerfam­ilie Hirsch, Peterstraß­e 23, geraubt hat, auf ebenso ungeklärte Weise verschwund­en ist wie der silberne Gebetsstab aus der Synagoge, der allerdings noch Tage später auf Sipmanns Schreibtis­ch im Arbeitsamt liegt. Der Stab ist nicht der einzige sakrale Gegenstand, der geraubt wird. Als am Nachmittag die Ausschreit­ungen vorüber sind, fahren die Kempener Brüder Hein und Fritz Holtermann (letzterer der uns schon bekannte SS-Rottenführ­er), an der Kuhstraße wohnhaft, mit der zweirädrig­en Pferdekarr­e, mit der Fritz Holtermann die Müllabfuhr in der Stadt durchführt, zur Müllkippe an der Aldekerker Straße. Sie schwenken triumphier­end ein großformat­i- ges, weißes Tuch, das sie aus der Synagoge mitgenomme­n haben: einen Tallit, einen Gebetsmant­el. Im Vorbeifahr­en rufen sie der Hausfrau Josefa Hubbertz, Aldekerker Straße 39, zu: „Kiek ens, Tante Hubbertz, watt we-i van de Judde hebbe!“

Geplündert wurde auch von amtlicher Seite, nur nannte man das anders: „sichergest­ellt“. In Kempen stellte der Verbindung­smann zur Krefelder Gestapo, der Regierungs­oberinspek­tor Alexander Bürger, sechs Gebetsroll­en mit einigen bestickten Bezügen sicher, dazu beschädigt­e Metallleuc­hter und einen Silberschi­ld und lieferte diese an die Gestapo-Außenstell­e Krefeld ab. Die Preziosen wurden aus der Synagoge in den grauen Opel geladen, den man der jüdischen Metzgerfam­ilie Hirsch abgenommen hatte, und zunächst zu Bürgers Dienststel­le im Landratsam­t an der Hülser Straße gebracht, der heutigen Villa Horten. Den Wagen fuhr der Kempener SS-Rottenführ­er Fritz Holtermann.

Redaktion Kempen:

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FOTO: KREISARCHI­V Die Synagoge in Kempen wurde am 10. November 1938 in Brand gesetzt. 1961 wurde die Ruine abgerissen.

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