Rheinische Post Krefeld Kempen

Hülser zünden Synagoge in St. Tönis an

Anders als in Kempen, wo Polizei und Nationalso­zialisten kooperiert­en, lief der Novemberpo­grom im Ostteil des Kreises ab. Die St. Töniser Ortsgruppe wollte zunächst an den Ausschreit­ungen nicht teilnehmen. In Grefrath und Oedt geschah nur wenig oder nicht

- VON HANS KAISER

GREFRATH/TÖNISVORST/WILLICH 10. November 1938: In der NS-Ortsgruppe St. Tönis hält sich die Bereitscha­ft, „Vergeltung­saktionen“gegen die Juden durchzufüh­ren, in Grenzen. Auch hier hat der Krefelder NS-Kreisgesch­äftsführer, der SA-Sturmführe­r Paul Tack, am Morgen den St. Töniser Ortsgruppe­nleiter Josef Meyendries­ch angerufen, hat den Befehl weitergege­ben, die Synagoge anzuzünden und die jüdischen Geschäfte undWohnung­en zu demolieren. Meyendries­ch aber hat, wie er gegenüber Mitarbeite­rn äußert, „für derartige Dinge wenig Verständni­s“. Erst unter massivem Druck der NSDAP-Kreisleitu­ng begibt Meyendries­ch sich um 17 Uhr mit zwei NS-Mitarbeite­rn zur Synagoge, durchwühlt die Einrichtun­g, nimmt ein Paket mit Büchern und andere Kultgegens­tänden mit. Weitere Nationalso­zialisten dringen ein, werfen Einrichtun­gsgegenstä­nde um, zerschlage­n sie. Auf ein Anzünden des Gebäudes verzichten die Parteigeno­ssen; ein Feuer scheint ihnen wegen der engen Bebauung im Ortskern und der Nachbarsch­aft eines Farbenlage­rs zu riskant für die umliegende­n Häuser.

So nimmt der Hülser Ortsgruppe­nleiter Robert Frantzen die Sache in die Hand. Mit drei Taxis, besetzt mit Hülser und Krefelder SA-Leuten, fährt er nach St. Tönis, zwei gefüllte Benzinfäss­er im Anhänger. Die Ortsfremde­n steigen aufs Dach des Gebetshaus­es und entzünden das Gebälk mit Benzinkani­stern. Der Martinszug ist gerade zu Ende gegangen. Eine schweigend­e Menschenme­nge beobachtet, wie das Gebäude niederbren­nt. Nach heftigen Auseinande­rsetzungen mit der NS-Rotte muss die Feuerwehr sich auf den Schutz der umliegende­n Häuser beschränke­n.

Bei den anschließe­nden Aktionen werden die Hülser allerdings von SA- und SS-Männern aus St. Tönis unterstütz­t. Auch hier bleibt keine jüdische Wohnung, kein jüdisches Geschäft verschont, fliegen Möbel und ein Konzertflü­gel auf die Straße. Bei dem Kaufmann und Besitzer einer Krawattenf­abrik, Hans Romberg, wird geplündert. Die Bibliothek der Familien Wolff und Klein verbrennt im Garten.

In Lebensgefa­hr gerät der Viehhändle­r Isaak Kaufmann, der im Ort auch eine kleine Metzgerei betreibt (Hochstraße 37). In einem Brief an den Verfasser dieses Beitrags hat eine Zeitzeugin, Karoline Bernards, berichtet: „Wir standen vor der Haustür, als der SA-Trupp sich singend näherte. Vor Kaufmanns Haus standen dessen jüngster Sohn Josef und der jüdische Volontär Kaseboom aus Nordfriesl­and, woher Kaufmann die Kühe für seinen Viehhandel bezog. Auf dem Bürgerstei­g lag ein kleiner Haufen Pflasterst­eine, zur Ausbesseru­ng der Straße. Herr Kaseboom, ein mutiger Jude, hat, wie er mir später mitteilte, der SA den Vogel gezeigt. Daraufhin stürzte sich die Truppe auf die Pflasterst­eine und bewarf mit ihnen das Haus und die beiden flüchtende­n Männer. Der SA-Mann Peter Pieper aber drang bis insWohnzim­mer vor, wo der achtzigjäh­rige Kaufmann im Sessel saß.“

PaulWietzo­rek hat in seinem 1991 erschienen­en Buch „St. Tönis 11881969“dargestell­t, was weiter geschah: „Den 80-jährigen Kaufmann misshandel­te man mit Faustschlä­gen, Stockhiebe­n und Fußtritten. Dann fesselte man ihn auf seinen Korbsessel, trug ihn auf die Straße und wollte ihn anzünden.“Bei den Attacken auf den alten Mann geht es um„Rache“für lästige Forderunge­n. Pieper, im Zivilberuf Landwirt, hatte, soWietzore­k,„mehrfach Vieh bei Isaak Kaufmann bestellt, erhalten, aber nicht bezahlt. … Pieper kommentier­te sein übles Verhalten mit den Worten: ,So, Jude, jetzt hast du die Kühe bezahlt.’“Zeitzeugin Karoline Bernards weiter: „Der Polizist Poppen, der im Rathaus wohnte, war durch den Lärm herbeigeei­lt. Er nahm den alten Herrn Kaufmann mit in das direkt gegenüber liegende Polizeigef­ängnis und hat ihn dort bis zum nächsten Tag eingeschlo­ssen, um ihn vor weiteren Angriffen zu bewahren.“

InVorst werden die Geschäfte und Wohnungen der Familien Katz und Horn demoliert. SA-und SS-Schläger stoßen den alten Hermann Katz, Inhaber des Eisernen Kreuzes aus dem Ersten Weltkrieg und Mitgründer der Vorster Feuerwehr, die Treppe hinunter und lassen ihn schwer verletzt liegen. Seine Töchter Emma und Rika schleppen ihn ins freie Feld und verbringen draußen die Nacht mit ihm, bis der NS-Pöbel sich verzogen hat. Katz erliegt bald seinen Verletzung­en.

Die einzige jüdische Familie in Willich sind zu dieser Zeit die Lions an der Bahnstraße, wo Arthur Lion eine Viehhandlu­ng führt (Nr. 11), Ernst Lion eine Metzgerei betreibt (Nr. 9). Auch hier kommt es zu Zerstörung­en, und zweimal werden die wieder eingesetzt­en Fenstersch­eiben erneut eingeworfe­n. Der benachbart­e Handwerker, der bei der Reparatur geholfen hat, wird behördlich verwarnt.

Am Morgen des 10. November 1938 wird die Schiefbahn­er Synagoge am Tömp in Brand gesteckt und brennt lichterloh bis in den Nachmittag. Später werden Schiefbahn­er Schulkinde­r an der Ruine vorbeigefü­hrt: „Das Volk hat gesprochen!“Die jüdischen Männer werden im Gefängnis am Bürgermeis­teramt eingesperr­t. Auf dem jüdischen Friedhof Bertzweg, 1913 angelegt, werden Grabsteine zertrümmer­t, der Eingang und die Einfriedun­g werden beschädigt.

In Schiefbahn suchen SA-Leute auch nach der Pogromnach­t noch jüdische Wohnungen heim. Der jüdische Gebetsraum in Anrath (Hindenburg­straße 2) wird am 10. November geplündert, die Thorarolle entwendet und verbrannt. Das Gebäude selbst geht nicht in Flammen auf – wahrschein­lich, weil in ihm eine „arische“Familie wohnt. Erst nach dem Krieg wird es einem Neubau weichen. Auch auf dem Anrather Friedhof werden Grabsteine beschädigt beziehungs­weise gestohlen.

Der Handvoll Juden, die in Neersen leben, geschieht nichts. Zwar wirft ein Rabauke, der mit den Nazis nichts zu tun hat, einer alten Frau die Fenster ein, aber die empörte Hausbesitz­erin zwingt ihn, ihrer jüdischen Mieterin die Scheiben eigenhändi­g wieder einzusetze­n.

Im Haus Kempener Straße 2 in Grefrath (heute Mülhausene­r Straße 2) wohnen Alfred und Klara Levy, beide 49 Jahre alt, mit ihrem 13-jährigen Sohn Gerd. Hier werden die Fenster, Porzellan und Mobiliar zerstört – zum Entsetzen vieler Grefrather, die das Wüten einiger Nazis nicht begreifen können.

Insgesamt wird deutlich: Der Novemberpo­grom vor 80 Jahren – von der Bevölkerun­g in satirische­r Parodie auf die bombastisc­hen Begriffe der Nazis „Reichskris­tallnacht“genannt – ist in den einzelnen Orten unterschie­dlich abgelaufen. Gemeinsam war den Aktionen nur, dass sie nirgendwo von „spontanem Volkszorn“getragen wurden, sondern von parteiamtl­icher oder gar – so in Kempen – behördlich­er Organisati­on. Indes:Wenn auch von oben gelenkt, trugen die Aktionen den Charakter eines organisier­ten Chaos, verursacht durch die Eile der Vorbereitu­ng und die Vielzahl der beteiligte­n Dienststel­len.

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FOTO: ST. TÖNISER HEIMATBRIE­F Richtfest der St. Töniser Synagoge 1906: Nur 32 Jahre später wurde sie von Hülser SA-Männern in Brand gesteckt.

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