Rheinische Post Krefeld Kempen
Pfaffs Hof
Ein kleiner, zweitüriger Kleiderschrank und ein Schreibtisch mit dünnen, schrägen Beinen gehörten auch zum „Ensemble“. Alles war aus Limbafurnier, das mir gar nicht gefiel, aber Mutter fand: „Das ist doch ein sehr freundlicher Farbton“, und HerrVerhoeven sagte: „Mädchenhaft frisch.“
Der Schreibtischstuhl war Mutter zu teuer. „Da tut es erst mal einer von unseren Küchenstühlen.“
Dafür kaufte sie die Nachttischlampe, die die Frau Verhoeven mit dem Händchen hingestellt hatte.
Ein Lämpchen mit einem rotgrün karierten Stoffschirm und einem hässlichen Fuß aus Bleikristall und Holz.
Ich sagte gar nichts, weil Mutter so viel Spaß daran hatte, dachte „Papperlapapp“und dass ich es schon schaffen würde mit dem Speicher und dem Limbaholz.
Samstags nach der Schule musste ich mich nicht abhetzen, um den Bus zu kriegen.
Ich hatte eine halbe Stunde Zeit, und das war gut, denn es gab einiges zu sehen.
Das Jungengymnasium der Stadt, das nicht so weit weg war, begann zehn Minuten früher mit dem Unterricht, und die Jungs hatten dementsprechend auch zehn Minuten früher Schule aus.
Wenn wir rauskamen, warteten sie schon vorm Schultor.
Die meisten kamen mit dem Fahrrad, manche hatten aber auch ein Mofa oder sogar schon ein Moped.
Fast alle Oberstufenschülerinnen hatten sich schnell noch hinter den Fahrradständern geschminkt und ihre Röcke am Bund ein paarmal umgeschlagen, bevor sie auf den Bürgersteig rauskamen, zu zweit oder zu dritt, Arm in Arm, und so taten, als wären ihnen die Jungs ganz egal.
Ein paar Pärchen gab es aber auch schon. Da liefen die Mädchen auf die Jungs zu, und dann küssten sie sich. Auf den Mund, innig.
Einige verschwanden auch hinter der Hecke am Lehrerparkplatz und knutschten richtig. Die meisten von denen sahen so aus, als wären sie erst in der Mittelstufe.
Die Silkes hatten erzählt, die Jungs und Mädchen, die nicht miteinander gingen, würden sich im Café in der Unterstadt treffen, um sich kennenzulernen.
Ich betrachtete das ganze Treiben von der gegenüberliegenden Straßenseite aus und schlenderte harmlos zwischen der Metzgerei und dem Büdchen, an dem man Negerkussbrötchen und Waffelbruch kaufen konnte, hin und her.
Ich guckte mir das Geschminke an, die selbstgemachten Miniröcke, die Knutscherei und dachte die ganze Zeit:Wenn Vater das sieht, ziehen wir sofort wieder weg aus der Stadt.
Mutter gab mir einen Kuss, als sie mich zur Schule schickte.
Eine halbe Stunde früher als sonst. Sie selbst ließ sich Badewasser einlaufen – sie musste über Nacht den Boiler angeheizt haben.
Sonst badete sie wie alle am Samstagabend. Aber vielleicht hatte sie ihre Periode, dann war sie manchmal komisch.
Es war schön draußen, die Sonne schien.
Ich radelte langsam vor mich hin – Zeit genug hatte ich ja – und schaute in den Himmel.
War das eine Möwe?
Dann ruckelte es auf einmal, ich schrabbte mit meinem Bein an einer Mauer entlang, flog über den Lenker und knallte in einen Vorgarten.
Mein Fahrrad schlitterte über die Straße.
Ich rappelte mich auf und rechnete damit, dass jemand rausgerannt kam, aber alles blieb still. Die Leute, in deren Garten ich gelandet war, schliefen wohl noch.
Ich hatte Erde in den Augen und im Mund, spuckte aus und tastete nach meinem Gebiss – es war noch da.
Alles tat mir weh, am allermeisten mein Bein.
Es sah sehr schlimm aus. Vom Knie bis zum Knöchel war an der Außenseite die Haut weg, und es blutete.
Bestimmt musste ich ins Krankenhaus.
Ich kletterte über die Gartenmauer und holte mein Rad von der Straße. Gott sei Dank war es heil geblieben.
Ich humpelte über die Tenne in die Küche.
Da war nur Dirk, der auf unserem Plastiktrichter Trompete spielte und dabei hin und her marschierte. Mutter saß in der Wanne. „Was machst du denn hier?“„Ich bin gefallen.“
Ich traute mich nicht zu weinen, weil sie so wütend aussah. „Setz dich in die Küche.“
Als sie kam, hatte sie sich gar nicht richtig abgetrocknet und nur ihren Wochenbettmorgenmantel an.
Sie hob mein Bein hoch. „Du liebe Güte! Da reicht kein Pflaster, warte . . .“
Aus dem Nachttisch holte sie eine alte elastische Binde und eine Dose „Jomagüsan“, eine Salbe, die wir schon im Dorf gehabt hatten. Sie war gelblich braun und klebrig und roch ein bisschen nach Benzin.
Damit strich sie dieWunde ein – es brannte höllisch –, wickelte die Binde um mein Bein und machte das Ende mit einer Krampe fest.
Ich biss die Zähne zusammen, bis ich Blut schmeckte.
Mutter wischte sich die Salbenhände einfach an ihrem Morgenmantel ab.
„Und jetzt husch! Wenn du dich beeilst, kriegst du den Bus noch.“Ich guckte sie an.
„Keine Anstellerei jetzt!“Und ich radelte wieder los. Mit meinem kaputten Bein, das pochte und weh tat. Und mit schmutzigen Händen, die innen auch ein bisschen aufgeschrabbt waren. Bestimmt hatte ich auch ein schmutziges Gesicht . . .
Ich kriegte den Bus noch.
In der Schule würde ich erst mal aufs Klo flitzen müssen, um mich zu waschen.
Ich hasste das stinkige Schulklo immer noch, ich ging nie dorthin, hielt immer so lange an, bis ich wieder zu Hause war.
Ganz vorsichtig setzte ich mich auf meinen Platz, weil ich Angst hatte, ich müsste brechen.
In der ersten Stunde hatten wir Erdkunde.
Frau Holtappel kam herein, vollzog ihr Tafelklopf-Ritual, sagte aber nicht wie sonst „Guten Morgen, meine Lieben“, sondern:„Annemarie, was ist mit dir? Du siehst ja aus wie Käse, Milch und Spucke!“
Ich wollte ordentlich antworten, konnte aber nur schlucken.
„Alle mal aufstehen, lasst mich durch . . .“
(Fortsetzung folgt)