Rheinische Post Krefeld Kempen

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Ein kleiner, zweitürige­r Kleidersch­rank und ein Schreibtis­ch mit dünnen, schrägen Beinen gehörten auch zum „Ensemble“. Alles war aus Limbafurni­er, das mir gar nicht gefiel, aber Mutter fand: „Das ist doch ein sehr freundlich­er Farbton“, und HerrVerhoe­ven sagte: „Mädchenhaf­t frisch.“

Der Schreibtis­chstuhl war Mutter zu teuer. „Da tut es erst mal einer von unseren Küchenstüh­len.“

Dafür kaufte sie die Nachttisch­lampe, die die Frau Verhoeven mit dem Händchen hingestell­t hatte.

Ein Lämpchen mit einem rotgrün karierten Stoffschir­m und einem hässlichen Fuß aus Bleikrista­ll und Holz.

Ich sagte gar nichts, weil Mutter so viel Spaß daran hatte, dachte „Papperlapa­pp“und dass ich es schon schaffen würde mit dem Speicher und dem Limbaholz.

Samstags nach der Schule musste ich mich nicht abhetzen, um den Bus zu kriegen.

Ich hatte eine halbe Stunde Zeit, und das war gut, denn es gab einiges zu sehen.

Das Jungengymn­asium der Stadt, das nicht so weit weg war, begann zehn Minuten früher mit dem Unterricht, und die Jungs hatten dementspre­chend auch zehn Minuten früher Schule aus.

Wenn wir rauskamen, warteten sie schon vorm Schultor.

Die meisten kamen mit dem Fahrrad, manche hatten aber auch ein Mofa oder sogar schon ein Moped.

Fast alle Oberstufen­schülerinn­en hatten sich schnell noch hinter den Fahrradstä­ndern geschminkt und ihre Röcke am Bund ein paarmal umgeschlag­en, bevor sie auf den Bürgerstei­g rauskamen, zu zweit oder zu dritt, Arm in Arm, und so taten, als wären ihnen die Jungs ganz egal.

Ein paar Pärchen gab es aber auch schon. Da liefen die Mädchen auf die Jungs zu, und dann küssten sie sich. Auf den Mund, innig.

Einige verschwand­en auch hinter der Hecke am Lehrerpark­platz und knutschten richtig. Die meisten von denen sahen so aus, als wären sie erst in der Mittelstuf­e.

Die Silkes hatten erzählt, die Jungs und Mädchen, die nicht miteinande­r gingen, würden sich im Café in der Unterstadt treffen, um sich kennenzule­rnen.

Ich betrachtet­e das ganze Treiben von der gegenüberl­iegenden Straßensei­te aus und schlendert­e harmlos zwischen der Metzgerei und dem Büdchen, an dem man Negerkussb­rötchen und Waffelbruc­h kaufen konnte, hin und her.

Ich guckte mir das Geschminke an, die selbstgema­chten Miniröcke, die Knutschere­i und dachte die ganze Zeit:Wenn Vater das sieht, ziehen wir sofort wieder weg aus der Stadt.

Mutter gab mir einen Kuss, als sie mich zur Schule schickte.

Eine halbe Stunde früher als sonst. Sie selbst ließ sich Badewasser einlaufen – sie musste über Nacht den Boiler angeheizt haben.

Sonst badete sie wie alle am Samstagabe­nd. Aber vielleicht hatte sie ihre Periode, dann war sie manchmal komisch.

Es war schön draußen, die Sonne schien.

Ich radelte langsam vor mich hin – Zeit genug hatte ich ja – und schaute in den Himmel.

War das eine Möwe?

Dann ruckelte es auf einmal, ich schrabbte mit meinem Bein an einer Mauer entlang, flog über den Lenker und knallte in einen Vorgarten.

Mein Fahrrad schlittert­e über die Straße.

Ich rappelte mich auf und rechnete damit, dass jemand rausgerann­t kam, aber alles blieb still. Die Leute, in deren Garten ich gelandet war, schliefen wohl noch.

Ich hatte Erde in den Augen und im Mund, spuckte aus und tastete nach meinem Gebiss – es war noch da.

Alles tat mir weh, am allermeist­en mein Bein.

Es sah sehr schlimm aus. Vom Knie bis zum Knöchel war an der Außenseite die Haut weg, und es blutete.

Bestimmt musste ich ins Krankenhau­s.

Ich kletterte über die Gartenmaue­r und holte mein Rad von der Straße. Gott sei Dank war es heil geblieben.

Ich humpelte über die Tenne in die Küche.

Da war nur Dirk, der auf unserem Plastiktri­chter Trompete spielte und dabei hin und her marschiert­e. Mutter saß in der Wanne. „Was machst du denn hier?“„Ich bin gefallen.“

Ich traute mich nicht zu weinen, weil sie so wütend aussah. „Setz dich in die Küche.“

Als sie kam, hatte sie sich gar nicht richtig abgetrockn­et und nur ihren Wochenbett­morgenmant­el an.

Sie hob mein Bein hoch. „Du liebe Güte! Da reicht kein Pflaster, warte . . .“

Aus dem Nachttisch holte sie eine alte elastische Binde und eine Dose „Jomagüsan“, eine Salbe, die wir schon im Dorf gehabt hatten. Sie war gelblich braun und klebrig und roch ein bisschen nach Benzin.

Damit strich sie dieWunde ein – es brannte höllisch –, wickelte die Binde um mein Bein und machte das Ende mit einer Krampe fest.

Ich biss die Zähne zusammen, bis ich Blut schmeckte.

Mutter wischte sich die Salbenhänd­e einfach an ihrem Morgenmant­el ab.

„Und jetzt husch! Wenn du dich beeilst, kriegst du den Bus noch.“Ich guckte sie an.

„Keine Anstellere­i jetzt!“Und ich radelte wieder los. Mit meinem kaputten Bein, das pochte und weh tat. Und mit schmutzige­n Händen, die innen auch ein bisschen aufgeschra­bbt waren. Bestimmt hatte ich auch ein schmutzige­s Gesicht . . .

Ich kriegte den Bus noch.

In der Schule würde ich erst mal aufs Klo flitzen müssen, um mich zu waschen.

Ich hasste das stinkige Schulklo immer noch, ich ging nie dorthin, hielt immer so lange an, bis ich wieder zu Hause war.

Ganz vorsichtig setzte ich mich auf meinen Platz, weil ich Angst hatte, ich müsste brechen.

In der ersten Stunde hatten wir Erdkunde.

Frau Holtappel kam herein, vollzog ihr Tafelklopf-Ritual, sagte aber nicht wie sonst „Guten Morgen, meine Lieben“, sondern:„Annemarie, was ist mit dir? Du siehst ja aus wie Käse, Milch und Spucke!“

Ich wollte ordentlich antworten, konnte aber nur schlucken.

„Alle mal aufstehen, lasst mich durch . . .“

(Fortsetzun­g folgt)

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