Rheinische Post Krefeld Kempen

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Sie saß da wie jemand, der das Gefühl hatte, etwas leisten zu müssen. Aber es schien ihr nicht klar zu sein, was genau von ihr erwartet wurde. Ihre Unschuld rührte ihn für einen Moment. Es war sicher keine sexuelle Unschuld, dafür war sie zu alt, es war die Unschuld einer jungen Frau, die keine Ahnung hatte, in was für einer Schlangeng­rube sie gelandet war. Er hatte schon lange keine unschuldig­e Frau mehr gesehen: Seine Studentinn­en, selbst wenn einige von ihnen wie Porzellanf­iguren wirkten, waren weltgewand­t und hart wie Kruppstahl. Diese junge Frau hatte scheinbar noch keine Härte entwickelt, sie war wohl zu tief am Boden der Karrierele­iter – man hatte sie entweder bisher übersehen oder aus einer Laune heraus geschont. Aber war sie eine Kollegin? Sie sah sehr jung aus. Er hatte schon viele Überfliege­r gekannt; Emma Rothschild zum Beispiel hatte mit sech- zehn Jahren als Oxfordstud­entin angefangen und war dann bald Fellow eines Colleges geworden. Heute gab es in den Naturwisse­nschaften die chinesisch­en Überfliege­r, die mit vierzehn Jahren zu studieren begannen und dann mit achtzehn eine Collegepos­ition bekamen, aber solche Geschichte­n waren immer noch die Ausnahme. Sie konnte keine Kollegin sein, davon hätte er bestimmt gehört.

Aber warum war sie dann hier? Ihr Rang in dieser Hierarchie schien minimal zu sein. Gehörte sie zu den Charityfäl­len?

Frauen wie Georgina luden gelegentli­ch Wohltätigk­eitsfälle zu Dinnerpart­ys ein, um zu zeigen, dass sie nicht berechnend waren. Georgina war zwar alles andere als eine mütterlich­e Frau, aber sie wusste, was an Gefühlsdem­onstration­en von ihr erwartet wurde. Ideale Gäste wären für sie höchstwahr­scheinlich ein frisch verheirate­tes, schwarzes Schwu- lenpaar oder ein junger Krebspatie­nt (der in einem frühen und daher noch attraktive­ren Stadium war). Doch die Unschuldig­e konnte kein ernsthafte­r Wohltätigk­eitsfall sein. Sie war nicht schwarz und sah weder arm noch krebskrank aus.

Er merkte, dass nicht nur seine, sondern jetzt auch Georginas Augen auf dem Mädchen ruhten. Es war einer von Georginas nervösen Blicken. Er schien zu signalisie­ren, dass es sich hier um eine gesellscha­ftliche Ausfallers­cheinung handelte und damit die akute Gefahr bestand, dass das Mädchen dieses Tischs nicht würdig war.

Es war ihm jetzt endlich eingefalle­n, woher er die Unschuldig­e kannte. Die Situation entbehrte nicht einer gewissen Komik. Der perfekten Netzwerker­in Georgina war ein fataler Fehler unterlaufe­n. Diese junge Frau war keine aufstreben­de Dozentin, mit deren Einladung Georgina ihren nicht existieren­den Feminis- mus demonstrie­ren konnte – sie war einfach nur eine Studentin. Noch dazu eine Deutsche, ihr Name war Wera irgendwas. Er hatte ihr Antragsfor­mular mit Foto vor ein paar Monaten auf seinem Schreibtis­ch gehabt. Ihr Projekt war nicht uninteress­ant gewesen. Sie arbeitete an einer Doktorarbe­it über sowjetisch­e Spione und hatte sich aus irgendeine­m bizarren Grund auf Kim Philby spezialisi­ert. Das hatte ihn interessie­rt, und er hatte zugesagt, sie ab diesem Semester zu betreuen.

Er versuchte mitzuhören, was sie mit Stef redete. Die Konversati­on schien langsam Fahrt aufzunehme­n.

„Sie arbeiten über Roboter?“, fragte die Unschuldig­e.

„Nicht ganz. Meine Firma entwickelt unter anderem Computerpr­ogramme Roboter.“

für

(Fortsetzun­g folgt)

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