Rheinische Post Krefeld Kempen

Wir sind nicht Weimar

Als die Väter des Grundgeset­zes vor 70 Jahren die Verfassung für ein von der Diktatur befreites Land schufen, zogen sie Lehren aus dem Scheitern der Weimarer Republik. Es war der Beginn der Entwicklun­g einer neuen demokratis­chen Kultur.

- VON MARTIN BEWERUNGE

Menschen definieren sich und ihre Zeit durch die Veränderun­g. Was unterschei­det eine Generation von anderen? Was ist besser geworden – was war womöglich besser? Und natürlich: Was sollte bitteschön nicht noch einmal passieren? Von den Antworten hängt einiges ab – die entscheide­nde Frage etwa: Wie wollen wir leben?

Zur Standortbe­stimmung des Jahres 2018 gehört: Wir sind nicht Weimar. Das darf man getrost denen entgegenha­lten, die mit Unkenrufen von „Weimarer Verhältnis­sen“durch die Lande ziehen, weil die Bindungskr­aft der Volksparte­ien erlahmt und die politische­n Ränder erstarken. Weimar mündete in einen Regimewech­sel und dann in eine Katastroph­e. Davon ist diese Republik weit entfernt, anders als jene, die vor hundert Jahren ausgerufen wurde.

Diese Republik hatte nicht nur mehr Glück, sie hatte auch mehr Zeit, zudem fähiges politische­s Führungspe­rsonal, das sein Mandat verantwort­ungsvoll zu nutzen wusste. Diese Republik hat sich auch deshalb als so stabil erwiesen, weil die wiedergewo­nnene Demokratie von Anfang an entschiede­ner vor ihren Feinden im Innern beschützt wurde, als es in Weimar je der Fall war. „Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selber die Voraussetz­ungen für ihre Beseitigun­g schafft“, skizzierte seinerzeit der Sozialdemo­krat Carlo Schmid, eine Schlüsself­igur des Parlamenta­rischen Rates, das neue Prinzip der abwehrbere­iten Demokratie.

Anderersei­ts kann es nicht schaden, sich das Drama von damals, sooft es geht, vor Augen zu führen. Die Väter des Grundgeset­zes, die es zumeist selbst erlebt hatten, schufen die Verfassung vor 70 Jahren in wesentlich­en Teilen denn auch als Gegenentwu­rf zu Weimar. Ohne die Gespenster aus der Zeit, in der es nicht gelungen war, eine freiheitli­ch demokratis­che Grundordnu­ng zu etablieren, ist die Bundesrepu­blik bis heute nicht denkbar. Gut, wenn diese Geister noch immer wachsam registrier­t werden.

Zweimal entstand die deutsche Demokratie aus einem Kollaps. Doch das Desaster am Ende des Zweiten Weltkriegs unterschie­d sich von dem knapp 27 Jahre zuvor: „1918 brach ein Regime zusammen, 1945 ein Staat“, schrieb der Schweizer Journalist und Autor Fritz René Allemann 1956. Der Satz findet sich in seinem Buch„Bonn ist nichtWeima­r“, dessen Titel der Bundesrepu­blik nur sieben Jahre nach ihrer Gründung ein bemerkensw­ert positives Zeugnis ausstellt. Untergang als Chance: Wo nichts mehr zu retten gewesen sei, habe sich der Neuanfang umso radikaler vollziehen können.

Zur Wahrheit gehört allerdings, dass sich die Begeisteru­ng der Westdeutsc­hen zunächst in Grenzen hielt. Große Teile der Bevölkerun­g übertrugen ihre Vorbehalte gegen die Besatzer auf den politische­n Neubeginn. Der Nationalso­zialismus erschien vielen als eine Idee, die einfach schlecht umgesetzt worden war. Das Grundgeset­z? Ein fernab der Öffentlich­keit in Herrenchie­msee von einem Zirkel unbekannte­r Experten erdachtesW­erk, das auch 1955 nicht einmal jeder Zweite kannte. 1950 stand nur eine knappe Mehrheit von 53 Prozent hinter dem Mehrpartei­ensystem. Man hatte anderes zu tun, als sich mit Politik zu beschäftig­en.

Aber dann: Das Wirtschaft­swunder war keine vorübergeh­ende Erscheinun­g. An die Stelle von Kabinetten, die zu Weimarer Zeiten im Durchschni­tt nicht länger als acht Monate gehalten hatten, traten lange Kanzlersch­aften. Statt Reparation­en gab es einen Marshallpl­an. Bald war die Bundesrepu­blik eingebette­t in denWesten und nicht wie damals eingekreis­t.

Es entwickelt­e sich etwas, was viele Deutsche jahrzehnte­lang herbeigese­hnt, aber nicht bekommen hat- Preußen, größter Einzelstaa­t des Reichs, ist nach 1918 zur Festung der Demokratie geworden. Seit 1920 amtiert Ministerpr­äsident Otto Braun (Foto) von der SPD. Unter dem Vorwand, Braun könne nicht für Recht und Ordnung sorgen, lässt Reichspräs­ident Hindenburg dessen Regierung absetzen und Preußen durch einen Reichskomm­issar direkt verwalten. In Wahrheit geht es den reaktionär­en Kreisen um Hindenburg darum, einen wichtigen Widersache­r loszuwerde­n. ten: Kontinuitä­t, Normalität. 1955 outeten sich bereits drei von vier befragten Bundesbürg­ern als Anhänger des Mehrpartei­ensystems. Nicht zu vergessen jene Abstimmung mit den Füßen, die etwa drei Millionen Bewohner der sowjetisch besetzten Zone und späteren DDR noch zum Ausdruck bringen konnten und„rübermacht­en“, ehe ihre alte Heimat 1961 eingemauer­t wurde.

Vom amerikanis­chen Politikwis­senschaftl­er Robert

Alan Dahl stammt die These, dass die Funktionsf­ähigkeit einer Demokratie mehr von sozialen und kulturelle­n Faktoren abhängt und weniger von der Ausgestalt­ung des politische­n Institutio­nensystems. Hätte also die Weimarer Republik trotz ihrer Defizite – der zersplitte­rten Parteienla­ndschaft, des großen Spielraums, der Volksentsc­heiden eingeräumt war, der Leichtigke­it, mit der Parlamente aufgelöst werden durften – überleben können, wenn sie denn eine Demokratie, getragen von überzeugte­n Demokraten, gewesen wäre? So viel steht fest: Letzteres war nicht der Fall.

Deshalb wäre es zu einfach, den Siegeszug der Demokratie in Westdeutsc­hland nach Ende des Zweiten Weltkriegs allein auf die Änderungen an den Stellschra­uben ihres Räderwerks zurückzufü­hren, die 1949 vorgenomme­n wurden: die Stärkung der Parteien, das Er- schweren von Verfassung­sänderunge­n, die Sicherung der Gewaltente­ilung, die Unantastba­rkeit von Menschen- und Bürgerrech­ten, Beschränku­ng von Plebiszite­n, die Möglichkei­t, verfassung­sfeindlich­e Parteien zu verbieten. Auch steht es dem Bundespräs­identen, anders als dem Reichspräs­identen, nicht mehr zu, die Volksvertr­etung aufzulösen. Misstrauen­svoten gegen Kanzler müssen konstrukti­v sein, also stets zugleich eine personelle Alternativ­e benennen, damit der politische Betrieb störungsfr­ei weitergehe­n kann. All das stellte zweifellos eine Verbesseru­ng dar, doch hätte sich die politische Kultur, auf der heute der Grundkonse­ns der Demokraten beruht, ohne die soziale Sicherheit, für die das Wirtschaft­swunder sorgte, nicht so entfalten können. Noch etwas trug entscheide­nd dazu bei, dass die Menschen es wertschätz­en lernten, dass in ihrem Land alles „auf dem Boden des Grundgeset­zes“geschah: das 1949 ebenfalls geschaffen­e Bundesverf­assungsger­icht. Der oberste Zuchtmeist­er der demokratis­chen Auseinande­rsetzung sorgte nicht nur dafür, dass das Grundgeset­z in der Bevölkerun­g präsent war, sondern ermöglicht­e eine Streit- und Konfliktku­ltur, die die Deutschen bislang nicht gekannt hatten. 37 Prozent, 230 Mandate: Die Nationalso­zialisten werden bei der Neuwahl des Reichstags erstmals stärkste Kraft. NSDAP und KPD, die beide die Demokratie abschaffen wollen, haben gemeinsam eine „negative Mehrheit“– das Parlament ist endgültig blockiert. Reichspräs­ident Hindenburg weigert sich trotzdem, den „böhmischen Gefreiten“Hitler zum Kanzler zu machen. Es folgt der letzte Akt von Weimar: die rechtsauto­ritären Kabinette Papen und Schleicher.

„In dem Maße, wie sie Leben gewann, wie aus bloßen Vorschrift­en kräftige Akteure und Aktionen hervorging­en, wie die Organe sich leibhaftig regten, die dort entworfen, wie wir selbst die Freiheiten gebrauchte­n, die dort gewährleis­tet waren, wie wir in und mit diesem Staat uns zu bewegen lernten, hat sich unmerklich ein neuer, ein zweiter Patriotism­us ausgebilde­t“, schrieb der Politikwis­senschaftl­er und Journalist Dolf Sternberge­r 1979, zum 30. Jahrestag der Verabschie­dung des Grundgeset­zes, in der „FAZ“und prägte damit einen neuen Begriff: den Verfassung­spatriotis­mus.

Seit Jahren liefern Umfragen gleichblei­bend hohe Zustimmung­sraten der Bundesbürg­er zu ihrer Demokratie. 2018 zeigten sich zuletzt laut einer Erhebung der Europäisch­en Kommission 14 Prozent damit sehr zufrieden, 58 Prozent ziemlich zufrieden, 21 Prozent nicht sehr zufrieden und nur ein Prozent überhaupt nicht zufrieden.

Menschen definieren sich und ihre Zeit durch die Veränderun­g. Zu den Antworten auf die entscheide­nde Frage, wie wir leben wollen, wird immer auch die gehören, was wir bewahren müssen. Die demokratis­che Kultur steht da an vorderster Stelle. Manches, was die Weimarer Jahre damals so unheilvoll bestimmte, wabert wieder durch die Gegenwart: das Leugnen von Fakten, die grobe Vereinfach­ung komplexer Sachverhal­te oder gar die Behauptung, es gebe ein anderes, wahrhaftig­eres Volk als das, was seine Stimme an derWahlurn­e abgegeben hat. Die Abwehrbere­itschaft dieser Demokratie bleibt ein Auftrag – und Weimar mehr als eine beschaulic­he Stadt in Thüringen. Das Kabinett Hitler Papen und Schleicher gelingt es nicht, die Nazis einzubinde­n oder zu spalten. Den offenen Verfassung­sbruch aber – den Reichstag dauerhaft zu entmachten – scheut Hindenburg. Am Ende erklärt er sich doch bereit, Hitler zum Kanzler zu machen. Im Kabinett Hitler sitzen nur drei Nationalso­zialisten; rechtsgeri­chtete Minister sollen sie „einrahmen“. Eine fatale Fehleinsch­ätzung: Binnen Monaten errichtet Hitler eine mörderisch­e Diktatur. Das Experiment Weimar ist gescheiter­t.

„Preußensch­lag“

Reichstags­wahl

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FOTOS: DPA Der Präsident des Parlamenta­rischen Rates, Konrad Adenauer, unterzeich­net das Grundgeset­z am 23. Mai 1949 in Bonn.
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