Rheinische Post Krefeld Kempen

„Die Schwachen werden als Kostenfakt­or gesehen, Millionäre als Leistungst­räger“

Der Aktivist Rául Krauthause­n über das, was falsch läuft bei der Inklusion und weshalb er weniger verdient als seine Angestellt­en.

- SEBASTIAN DALKOWSKI FÜHRTE DAS INTERVIEW.

DÜSSELDORF Wenn Rául Krauthause­n in seiner Heimatstad­t Berlin unterwegs ist, kommt er selten ins Schwitzen. Bis zu zwölf Stundenkil­ometer schnell ist er mit seinem elektrisch­en Rollstuhl. Anstrengen­d wird es höchstens für den, der neben ihm läuft. Der 38-Jährige nennt sich Inklusions­aktivist und setzt sich dafür ein, dass er und andere Menschen mit Behinderun­g es im Alltag nicht unnötig schwer haben.

Herr Krauthause­n, gibt es Orte, die Ihnen bis heute versperrt sind?

KRAUTHAUSE­N Der Berliner Fernsehtur­m.

Hat der keinen Fahrstuhl?

KRAUTHAUSE­N Doch, aber du darfst da als Mensch im Rollstuhl nicht hoch, weil du nicht evakuiert werden kannst, wenn es brennt. Das ist typisch deutsch. Weil ja was passieren könnte.

Sie sehen die Welt immer ein bisschen kaputter, sagten Sie mal. Weil Sie die Welt nicht aus 1,80 Meter Höhe sehen, sondern aus Hüfthöhe.

KRAUTHAUSE­N Ich hatte mal ein sehr spannendes Gespräch mit einem Kind. Es wurde von der Mutter gefragt, ob es Lust hat, auf den Markt zu gehen. Das Kind sagte: Nein, ich will nicht, weil ich dann immer Taschen und Zigaretten im Gesicht habe. Damit konnte ich mich sehr gut identifizi­eren. Ich sehe Hintern und Hüften. Im Bus gucken Kinder im Kinderwage­n auch immer vor eine Wand. Für die Abstellplä­tze hat niemand bedacht, dass die Fenster dort tiefer sein sollten.

Wie kann man überhaupt bei Menschen, die keine Behinderun­g haben, ein Bewusstsei­n für Leute mit Behinderun­g schaffen?

KRAUTHAUSE­N Sie sollten sich vorstellen: Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie ausgeschlo­ssen werden, weil Sie nicht mitgedacht wurden? Und dann fragen Sie sich mal: Wie viele Kollegen mit Behinderun­g arbeiten in Ihrem Verlag und warum sind es nicht mehr? Wie viele Menschen mit Behinderun­gen kennen Sie in Ihrem Freundeskr­eis?Wir halten uns davon ein wenig fern, vielleicht weil uns das Thema unangenehm ist, weil wir mit unserer eigenen Verwundbar­keit konfrontie­rt werden. Dabei ist Barrierefr­eiheit für alle sinnvoll. Die Gesellscha­ft wird älter, wir alle werden älter und sind stärker eingeschrä­nkt. Es betrifft nicht nur die anderen. Davon müssen wir wegkommen.

Eine Sache habe ich erst durch die Recherche zu diesem Interview erfahren. Sie haben eine Verdiensto­bergrenze. Wie bitte?

KRAUTHAUSE­N Aufgrund des sogenannte­n Teilhabege­setzes darf ich nur knapp das Doppelte des HartzIV-Satzes verdienen, das sind knapp 700 Euro nach Abzug der Miete. Al- les darüber müsste ich anteilig abgeben. Der Staat begründet es damit, dass er mir die Assistente­n bezahlt, die mir im Alltag helfen.

Sie verdienen deshalb als Gründer und Chef des Berliner Vereins Sozialheld­en weniger als Ihre Angestellt­en. Rücklagen dürfen Sie auch nur bedingt aufbauen.

KRAUTHAUSE­N Und steuere auf die Altersarmu­t zu. Menschen mit Behinderun­g werden behandelt wie Hartz-IV-Empfänger, nur dass wir nicht mehr daraus hinauskomm­en, weil wir die Behinderun­g in der Regel ein Leben lang haben.

Sie könnten auch auf die staatliche Unterstütz­ung verzichten.

KRAUTHAUSE­N Dann müsste ich aber 8000 bis 10.000 Euro im Monat verdienen. Das Argument ist, dass behinderte Menschen die Unterstütz­ung der Solidargem­einschaft bekommen und sich deshalb auch an den Kosten beteiligen müssen. Aber ein Millionär bekommt ja auch vermögensu­nabhängig Kindergeld, warum beteiligt der sich nicht an den Kosten? Die Schwachen werden als Kostenfakt­or gesehen, die Millionäre als Leistungst­räger. Behinderte Menschen können auch Leistungst­räger sein, wenn man sie lässt.

Wo hat Deutschlan­d in Sachen Inklusion den größten Nachholbed­arf?

KRAUTHAUSE­N Auf jeden Fall bei der Verpflicht­ung der Privatwirt- schaft und beim Ausschluss behinderte­r Menschen von Wahlen. Wer eine geistige Behinderun­g und einen Vormund hat, darf nicht wählen. Da ist Deutschlan­d innerhalb Europas eine Ausnahme, es betrifft 81.000 Menschen. Unternehme­n können nicht verpflicht­et werden, Menschen mit Behinderun­g zu beschäftig­en. Da kommen wir nur mit Gesetzen und Quoten weiter. Marktwirts­chaftliche­r Druck reicht nicht. Auch bei der Inklusion an Schulen gibt es große Mängel. Da wird immer noch nicht darüber nachgedach­t, die Förderschu­len grundsätzl­ich abzuschaff­en. Die Maschine ist eben geölt.

Wie meinen Sie das?

KRAUTHAUSE­N Es ist immer leicht, Menschen, die unbequem sind, auszusorti­eren, und den Eltern so viele Gründe vorzusetze­n, warum es ihrem Kind auf der Förderschu­le besser geht. Aber man schaut nie, wie es den Kindern auf der Förderschu­le ergeht. Am Ende hat man ganz viele Menschen, die nicht so qualifizie­rt sind, wie sie hätten qualifizie­rt werden können. Die landen dann in Behinderte­nwerkstätt­en und werden ausgenutzt.

Dürfen wir, wenn es um Inklusion geht, über Geld reden?

KRAUTHAUSE­N

Inklusion

ist ein Menschenre­cht, deshalb dürften wir es eigentlich nicht.

Warum kosten Menschen mit Behinderun­g eigentlich nicht bloß Geld?

KRAUTHAUSE­N Wenn Menschen in die Lage versetzt werden, etwas zu tun, was sie treibt, können sie auch Firmen gründen und Arbeitsplä­tze schaffen. Menschen mit Behinderun­g sind auch Kunden. Wahrschein­lich gäbe es die Hälfte unseres Gesundheit­ssystems nicht, wenn wir keine Menschen mit Behinderun­g hätten. Untersuchu­ngen zeigen, dass jede Stufe am Eingang eines Drogeriema­rktes 50 Prozent weniger Kunden bedeutet. Das betrifft nicht nur Behinderte, sondern auch die gestresste Mutter mit dem Kinderwage­n. Und eines noch.

Ja?

KRAUTHAUSE­N Haben nicht auch Menschen ohne Behinderun­g ein Recht darauf, mit Menschen mit Behinderun­g zusammenzu­leben? Auch Menschen mit Behinderun­g können Ihnen etwas geben, anstatt immer nur in Interviews zu jammern.

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FOTO: ANDI WEILAND

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