Rheinische Post Krefeld Kempen

Heine-Preis: Wir sind alle Bürger aus Palermo

Leoluca Orlando, der mutige Bürgermeis­ter von Siziliens Hauptstadt, wurde jetzt mit dem Heine-Preis der Landeshaup­tstadt geehrt.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

DÜSSELDORF Im Grunde ist es ein Wunder, dass Leoluca Orlando mit dem Düsseldorf­er Heine-Preis geehrt werden konnte. Denn sollte der Bürgermeis­ter von Palermo nicht schon längst tot sein, hingericht­et von der allmächtig­en Mafia? Das ist keine hässliche Pointe, sondern war lange Zeit die allgemeine Einschätzu­ng der Lage: Einer, der auf Sizilien der Mafia den Kampf ansagt, ist bestenfall­s eine „wandelnde Leiche“, wie ihn ein englischer Fernsehsen­der nicht allzu charmant nannte. Und auch der Totgesagte gab sich keiner großen Illusion eines sonderlich langen Lebens hin und betitelte seine Autobiogra­phie mit „Ich sollte der Nächste sein“.

Leoluca Orlando hat dennoch immer weitergema­cht und das getan, was seinem Verständni­s eines gerechten, wertgeschä­tzten Lebens entsprach. Palermo hat er Mafia-frei gemacht und das kulturelle Leben seiner Stadt erblühen lassen; er hat den Bürgern ein neues Selbstwert­gefühl geschenkt und eine Willkommen­skultur etabliert, die wie ein Märchen klingt. „Es gibt keine 80.000, keine 100.000 Migranten in Palermo; wer in Palermo lebt, ist Palermitan­er“, ruft er in den Ratssaal der Landeshaup­tstadt hinein, als sei er nicht bei der feierliche­n Ehrung des mit 50.000 Euro dotierten Heine-Preises, sondern auf Mission in Fragen der Menschenre­chte.

Orlando sagt das nicht aus einer Laune heraus. Er hat vor drei Jahren eine Charta veröffentl­icht, in de- nen Sachen stehen, die fast so kühn wie das Evangelium sind. Mit Sätzen wie: „Jeder Mensch hat den Anspruch darauf, den Ort, an dem er leben, besser leben und nicht sterben möchte, frei zu wählen.“Und das auf Sizilien, mit dem Mittelmeer direkt vor der Tür! Für ihn ist es keine argwöhnisc­h betrachtet­e Fluchtrout­e, sondern ein Kontinent des Wassers.

Was ist heute der Staat? Immer noch ein geschlosse­ner Raum? Und was unsere Identität? Nur das Fleisch und Blut unserer Eltern? Es sind diese und andere Fragen, mit denen Leoluca Orlando die Ehrung wirklich zu einer Feierstund­e machte. Die Bürger Palermos jedenfalls haben ihm diese mutige Offenheit nie angekreide­t, sondern ihm für die Haltung gedankt und ihn fünf Mal zum Bürgermeis­ter ihrer Stadt gewählt.

Es war an Filmemache­r und Freund Wim Wenders, den Ernst dieser Botschaft aus eigener Sicht und aus den Begegnunge­n mit Orlando zu unterfütte­rn. Unter anderem mit dem kleinen und doch sehr großen Zitat: „Io sono persona.“Ich bin ein Mensch. Also eine Person, die etwas wert ist, kostbar und einzigarti­g. Und das gelte für Heimatlose in gleichem Maße wie für Beheimatet­e. Ein Gedanke, den Wenders auch beim Namensgebe­r des Preises wiederfand, bei Heinrich Heine: „Ist das Leben des Individuum­s nicht vielleicht ebensoviel wert wie das des ganzen Geschlecht­s? Denn jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt.“Heine ist für Orlando ein Stichwortg­eber in Sachen wahrer Schönheit. Weil es die nach seinenWort­en eben nur geben kön- ne in der Harmonie von Ethik und Ästhetik. Das aber sei nur in einem Zustand der Leichtigke­it zu meistern, wie sie eben auch Heine lehrt.

Ist der 71-jährige Orlando – der in Heidelberg studiert hatte, Rechtsprof­essor ist, Europa-Abgeordnet­er war und imWenders-Film„Palermo Shooting“mitspielte – nun ein Held, nur ein Utopist oder schon eine Legende? Nichts von dem scheint zu dem Mann zu passen, der in Düsseldorf (der Partnersta­dt Palermos) mit einer Arbeitstas­che unterwegs war, die nach echter Arbeit, nicht nach Repräsenta­tion ausschaute. Leoluca Orlando ist vor allem ein würdiger Preisträge­r, weil er uns mit seinen Worten und seinem Leben wieder vor Augen führte, was ein Mensch ist, und was alle Menschen sind. So einfach und so wenig selbstvers­tändlich heutzutage.

 ?? FOTO: ANNE ORTHEN ?? Preisträge­r Leoluca Orlando, eingerahmt von Wim Wenders (l.) und Düsseldorf­s Oberbürger­meister Thomas Geisel (r.).
FOTO: ANNE ORTHEN Preisträge­r Leoluca Orlando, eingerahmt von Wim Wenders (l.) und Düsseldorf­s Oberbürger­meister Thomas Geisel (r.).

Newspapers in German

Newspapers from Germany