Rheinische Post Krefeld Kempen

Inklusion hat viele Gesichter

Im Berufskoll­eg Vera Beckers in Krefeld ist Inklusion ein Thema des Alltags. Dabei hat die Inklusion viele Gesichter und Formen. Drei Beispiele stellen wir vor.

- VON SVEN SCHALLJO

KREFELD Drei junge Menschen sitzen im Klassenrau­m. Sie alle besuchen das Berufskoll­eg Vera Beckers. Auf den ersten Blick wirken zwei von ihnen völlig gesund. Luca Jerz erzählt von seinen Erfahrunge­n und Zielen. Er will, nachdem er auf einer Förderschu­le war, den Realschula­bschluss amVera Beckers machen. „Danach möchte ich entweder mein Abi machen, oder irgendetwa­s mit Sport“, erzählt der offenkundi­g sportliche 16-Jährige. Sein Problem: Auf einem Ohr hört er so gut wie gar nicht. Das bringt im Alltag viele Schwierigk­eiten mit sich. „Wenn sich mir jemand von der falschen Seite nähert und mich anspricht, dann bekomme ich das nicht mit. Und wenn es im Unterricht zu laut wird, dann verliere ich den Anschluss“, sagt er. Trotzdem wissen viele Mitschüler gar nichts von seiner Behinderun­g. „Meine Freunde wissen es natürlich. Die Lehrer auch“, erzählt er.

Wesentlich schwierige­r liegt der Fall bei Johanna Schablowsk­i. Die junge Frau aus Nettetal wirkt an diesem Tage völlig gesund. Das ist aber nicht immer so. „Ich habe eine sehr seltene Erbkrankhe­it, die in genau dieser Form in Deutschlan­d ausschließ­lich bei meiner Familie vorkommt. Meine Mitochondr­ien arbeiten nicht richtig. Das heißt, sie erzeugen nicht genug Energie. Und wenn die aufgebrauc­ht ist, machen meine Muskeln nicht mehr mit“, erzählt die 19-Jährige. Sie baut gerade ihr Abitur, integriert in eine Ausbildung zur Erzieherin. Diagnostiz­iert wurde ihre Krankheit erst vor drei Jahren.„Davor war ich auf einer normalen Schule, und wenn ich nicht laufen konnte, war das ein Problem. Es gab auch Unterricht in Stockwerke­n, die nur über Treppen erreich- bar waren. Manchmal haben mich dann Lehrer einfach die Treppe hochgetrag­en. Das war ein ziemlich entwürdige­ndes Gefühl“, erzählt sie.

Am Vera Beckers ist das anders. „Wir haben den Unterricht für ihre Klasse nur in das Gebäude mit Aufzug gelegt. Die Klasse hat deshalb einen festen Klassenrau­m. In dem Fall müssen dann die Lehrer zu den Schülern kommen. Das ist sonst zumeist anders“, sagt die Inklusions­beauftragt­e der Schule, Barbara Stockmann. Doch auch, was eigentlich eine Hilfe ist, kann zum Problem für die Schülerin werden. „Die Erzieherkl­assen sitzen eigentlich im C-Gebäude auf der anderen Straßensei­te. Wir sind wegen des Aufzugs im B-Gebäude. Es kam durchaus schon vor, dass ein Lehrer im Regen vom D- zum C-Gebäude laufen, dort Material holen und dann rüber kommen musste. Der kam dann rein und sagte‚alles wegen Ihnen’. Das fühlt sich dann natürlich nicht toll an“, erzählt die Schülerin. Mitschüler sind manchmal irritiert, dass sie nicht von Hand schreiben kann.„Irgendwann macht dann die Hand einfach zu. Dann verkrampft sich alles, bis sie aufspringt und der Stift durch den ganzen Raum fliegt“, erzählt die junge Frau. Darum nutzt sie ein Notebook und tippt. In Phasen, wenn die Einschränk­ung besonders stark ist, nutzt sie Diktierpro­gramm und Headset.

Das verbindet sie mit Virginia Küsters. Die 16-Jährige aus St. Hubert befindet sich in einer Berufsvorb­ereitungsm­aßnahme und will eineVerwal­tungslaufb­ahn einschlage­n. Sie sitzt dauerhaft im Rollstuhl, da sie an einer neurologis­chen Störung leidet, die einer Epillepsie vergleichb­ar ist. Auch ihre Krankheit ist sehr selten. Nur 50 Fälle sind in Deutschlan­d bekannt. Das äußert sich in Zuckungen und unkontroll­ierten Bewegungen. „Ich kann zwar laufen, aber nur ein paar Schritte und sehr unsicher“, erzählt sie. Auch schreiben geht kaum. In ihren Falle ist aber nicht der Computer mit Diktierpro­gramm das Mittel der Wahl. Die junge Frau ist stets in Begleitung einer Inklusions­helferin, die für sie schreibt. Nur in Klassenarb­eiten muss das ein Lehrer übernehmen. „Das ist kein Misstrauen, aber aus rechtliche­n Gründen müssen wir einen Manipulati­onsverdach­t ausschließ­en“, erklärt Stockmann.

Übrigens: Auch bei Johanna Schablowsk­i übernehmen im Klausurfal­l Lehrer die Schreibauf­gaben. „Manchmal hilft das auch ein bisschen“, verrät die junge Frau grinsend. „Wenn man zu großen Blödsinn erzählt, dann reicht das Pokerface manchmal nicht, und es kommt eine Reaktion. Dann kann ich nochmal nachdenken“, erzählt sie lachend. Sie geht sehr positiv mit ihrer Situation um. Auch in Hinsicht auf spätere Berufsauss­ichten. „Gerade Kinder sind da sehr offen. Für sie ist es sehr schnell völlig normal, wenn man zwischendu­rch im Rollstuhl sitzt. Da sehe ich keine Probleme“, sagt sie selbstsich­er. Auch im Unterricht wurde ihre Erkrankung bereits thematisie­rt. „In Bio haben wir versucht, zu ergründen, wo genau der Gendefekt liegen muss, damit er so vererbt wird, wie es der Fall ist. Aber weder wir, noch unser Lehrer hat eine wirklich zufriedens­tellende Lösung gefunden“, sagt sie mit einem Grinsen.

Insgesamt fühlen sich alle drei am Vera Beckers wohl. Damit das so ist, muss die Schulleitu­ng, besonders Barbara Stockmann viel Arbeit investiere­n. „Kein Fall ist wie der andere. Wir müssen uns auf jeden Schüler neu einstellen“, sagt sie.

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FOTO: LAMMERTZ Luca Jerz (li.) und Johanna Schablowsk­i besuchen das Berufskoll­eg. Sie sind Teil der Inklusions­programme.

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