Rheinische Post Krefeld Kempen
Grenzwertig
ANALYSE Der Dieselskandal und der Streit um Grenzwerte sind ein Beispiel für multiples politisches Organversagen. Aber auch ein Beleg dafür, dass wir es nicht mehr wagen, zwischen großen und kleinen Risiken zu unterscheiden.
Wenn in den kommenden Jahren neue Schulbücher für den Politikunterricht konzipiert werden, müssen die Verlage wohl nicht lange nach einem prächtigen Beispiel für eklatantes Politikversagen suchen: Der Dieselskandal bietet bestes Anschauungsmaterial dafür, wie eine Situation völlig außer Kontrolle geraten kann. Durch eine Mischung aus Unkenntnis, Naivität, Unterlassung und Dreistigkeit.
Die Folgen sind schnell beschrieben: Millionen Bürger sind Eigentümer eines als besonders umweltfreundlich beworbenen Dieselfahrzeugs, das aber die gültigen Abgasnormen nicht einhält, weil die Hersteller diese jahrelang kaltschnäuzig ignoriert haben und von der Politik bisher nicht zur Nachbesserung gezwungen wurden. Bald werden diese Diesel in vielen Ballungsräumen nicht mehr fahren dürfen und haben deswegen schon drastisch an Wert verloren. Die Fahrverbote werden vor den Verwaltungsgerichten durch einen intransparenten Lobbyverein namens Deutsche Umwelthilfe eingeklagt, von dem man aber weiß, dass er sich zu rund 20 Prozent aus Steuermitteln finanziert.
Die Lage ist verfahren, und mehr noch: Sie ist gefährlich. Denn was da gerade rund um das Thema Dieselfahrverbote geschieht, ist eine Art Superdünger für Politikverdrossenheit. Den geringsten Vorwurf müssen sich noch die Gerichte gefallen lassen. Sie wenden schließlich nur gültige Gesetze an. Und selbst die in mancher Hinsicht dubiose Deutsche Umwelthilfe, deren selbstherrlicher Geschäftsführer Jürgen Resch sich gerne geriert wie die fünfte Gewalt im Staate, ist nicht verantwortlich für das Desaster, sondern nutzt die Situation nur für sich aus. Nein, neben den Autokonzernen, die ihre Kunden millionenfach getäuscht haben, sind es vor allem die Politiker, die versagt haben. Und zwar von Anfang an.
Denn der Dieselskandal hat eine lange Vorgeschichte, die bis in die Mitte der 80er Jahre zurückreicht. Damals beschloss der Europäische Rat erstmals Richtlinien für Luftqualitätsnormen in Bezug auf Stickstoffdioxid – das neuerdings berüchtigte NO2. Mit anderen Worten: Es waren also nicht irgendwelche anonyme Brüsseler Bürokraten, sondern die nationalen Regierungen, die damals die ja durchaus löbliche Initiative ergriffen, die Qualität der Atemluft in Europa zu verbessern.
Für die Umsetzung sollten wissenschaftliche Erkenntnisse der WeltgesundheitsorganisationWHO die Grundlage bilden. Das Problem war nur: Es gab keine. Jahrelang versuchten WHO-Experten, aus dem vorhandenen Datenmaterial Hinweise auf einen Grenzwert für Stickoxid zu gewinnen. Es gelang ihnen aber nicht, eine klare Dosis-Wirkung-Beziehung zu ermitteln. Also eine Antwort auf die Frage, ab welcher Konzentration NO2 gesundheitliche Schäden auslösen kann. Am Ende rang sich die WHO lediglich zu einer Schätzung durch, die durch die Dieseldebatte bekanntgewordenen 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft.
Es handelte sich dabei ausdrücklich nicht um einen Grenz- sondern nur um einen Richtwert, der die mittlere jährliche Belastung eines Individuums bezeichnet, und keinesfalls um eine Alarmschwelle, die an jeder beliebigen Straße Europas unbedingt einzuhalten sei.Trotzdem fanden sich die 40 Mikrogramm am Ende in der Richtlinie 1999/30/EG wieder – und zwar als harter Grenzwert.
Die Fachwelt ist zutiefst gespalten, was die Bewertung des Stickoxidgrenzwerts angeht. Der Graben verläuft zwischen Epidemiologen, die ihre Erkenntnisse vorwiegend aus statistischen Bevölkerungsdaten errechnen, und Toxikologen, die dieWirkung von Substanzen ganz konkret an Zellkulturen, Menschen oder Tieren erproben, um deren Wirkung einschätzen zu können. Wäh- rend die einen die Schädlichkeit von NO2 durch epidemiologische Studien für hinreichend belegt sehen und vereinzelt sogar nach noch strengeren Grenzwerten rufen, halten die anderen schon die bislang gültigen Grenzwerte für pure Mutmaßungen und damit für wissenschaftlichen Humbug. Einige sprechen sogar von Hysterie.
Definitiv unseriös ist es jedenfalls, durch Berechnung von Stickoxid-Konzentrationen auf konkrete Todesfälle zu schließen, wie es etwa die Deutsche Umwelthilfe in einem reißerischen Werbespot getan hat. 12.000 Menschen, so heißt es da, stürben in Deutschland jedes Jahr „vorzeitig am Dieselabgasgift NO2“. Mit solchen Tartarenmeldungen soll nicht nur aufgerüttelt, es soll blanke Angst geschürt werden. Dabei gilt in Deutschland für Produktionsstätten, also etwa Fabrikhallen, ein Grenzwert im Wochenmittel von 950 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter. Und hier verbringen viele Menschen ihr gesamtes Arbeitsleben, acht Stunden pro Tag.
Das alles ist also nur sehr schwer zu begreifen. Gewiss, es steht außer Zweifel, dass die Luft in vielen deutschen Großstädten besser sein könnte, und dass der immer weiter zunehmende Straßenverkehr mit für die Schadstoffbelastung verantwortlich ist. Aber man kann sich dennoch fragen, ob wir da gerade den richtigen Kampf kämpfen. So bestreiten selbst viele Befürworter strenger Stickoxid-Grenzwerte nicht, dass die viel größere Bedrohung für die Gesundheit vom Feinstaub ausgeht. Dessen Entstehung hat zwar teilweise auch mit NO2 zu tun, wird heute aber vor allem von Benzinmotoren verursacht. So gilt in den USA auch ein Grenzwert von 103 Mikrogramm NO2. Beim Feinstaub sind die Amerikaner dagegen viel strenger als wir.
Aber eine kritische Diskussion darüber scheint nicht möglich. Im Gegenteil: Die längst ideologisch aufgeladene Debatte über den Stickoxid-Grenzwert zeigt, dass hierzulande die Bereitschaft sinkt, noch pragmatisch zwischen großen und kleinen Risiken zu unterscheiden.Wir sind auf dem bestenWeg in die Grenzwert-Null-Gesellschaft.
Was da gerade rund um das Thema Dieselfahrverbote geschieht, ist ein Superdünger für Politikverdrossenheit