Rheinische Post Krefeld Kempen

Als Berlin leuchtete

Unbedingt sehenswert: Die großartige Film-Reportage „Menschen am Sonntag“aus dem Jahr 1930 ist neu auf DVD erschienen.

- VON PHILIPP HOLSTEIN

Es gibt ja nicht so viele Tage im Jahr, an denen man eine unbändige Lust auf Stummfilme hätte, und eigentlich ist das ganz schön schade. Man verpasst dann womöglich diesen sehr tollen Film, der tatsächlic­h etwas Besonderes ist, eine Bildreport­age nämlich, und die schildert ein Wochenende im schönsten Berlin, das man je auf der Leinwand bestaunen konnte. „Menschen am Sonntag“heißt die Produktion, sie kam 1930 ins Kino und gehört zu den cineastisc­hen Höhepunkte­n der Wei-

Billie Wilder schrieb das Drehbuch für diesen Kino-Klassiker der Weimarer Republik

marer Republik. Fast jeder der beteiligte­n Filmemache­r wurde später in Hollywood ein Star: Billie Wilder (der sich erst Mitte der 1930er Jahre „Billy“nannte), Curt und Robert Siodmak und Edgar G. Ulmer.

„Menschen am Sonntag“ist soeben in einer schönen Edition mit einigen Extras auf DVD und BluRay neu herausgeko­mmen, und hoffentlic­h werden nun noch mehr Menschen auf das Werk aufmerksam. Alle Darsteller sind Laien, die allermeist­en haben ihren ersten Auftritt vor der Kamera, und sie spielen sich selbst: Erwin, der Taxifahrer. Das Mannequin Annie. Der Weinvertre­terWolfgan­g. Die Komparsin Christl und ihre Freundin Brigitte. Wie begegnen ihnen zuerst am Samstag, und allein die Eröffnungs­szene ist schon wunderbar: Da sieht man Berlin, wie es von Schienen und von Straßen zerschnitt­en wird, und auf den kleinen Inseln, die von den Bewegungen der Triebwagen und Droschken verschont bleiben, stehen Menschen. Die nutzen die Gelegenhei­t zum Flirten und verabreden sich für Sonntag zum Ausflug an den Wannsee.

Billie Wilder, der damals als Reporter in Berlin arbeitete, schrieb das Drehbuch, und er versuchte, der Handlung etwas von einem Stadtfeuil­leton im Stil Walter Benjamins oder Siegfried Kracauers zu geben. Er erzählte episodisch, reihte Vignetten aneinander, und jede birgt etwas von der Atmosphäre der Metropole in jener Zeit. Soziologie im Kleinen, Zwischenme­nschlichke­it unter dem Mikroskop. Robert Siodmak und Edgar G. Ulmer setzten als Regisseure das Script um, und man sollte sich das Vergnügen machen und in jeder Szene auf das Licht achten. Berlin leuchtet hier, die Lichtrefle­xe sind geradezu artistisch inszeniert, mit einem samtigen Schattenra­nd mitunter, und man merkt, dass die Fotokunst etwa von Moholy-Nagy alsVorbild wirkte.

Der Zuschauer wird mitgenomme­n auf einen Ausflug ans Wasser, es gibt Kartoffels­alat und Würstchen, man hört Schallplat­ten, und weil die Sonne scheint und Frauen und Männer nun mal nicht anders können, im Sommer zumal, kommt es zu galanten Verwicklun­gen. Die improvisie­rten Spielszene­n werden gekontert mit dokumenta- rischem Material: der Hausvogtei­platz am Morgen, spielende Kinder am Ufer,Warenausla­gen. Im Hintergrun­d hört man bereits ein Grollen, es schwillt noch nicht an, aber es ist schon da und durchaus unheimlich: Reichswehr­soldaten sammeln sich an der Siegessäul­e.

„Menschen am Sonntag“ist so etwas wie der erste Independen­t-Film Deutschlan­ds, und weil ständig Geld fehlte, zogen sich die Dreharbeit­en ziemlich lang hin. Als Filmmateri­al wurde Ausschuss verwendet: überlagert­e Agfa-Filme. Unter den Filmemache­rn, die ihr Projekt im Romanische­n Café entwickelt hatten, gab es Streit; Kamera-Assistent Fred Zinnemann – auch er ging später nach Hollywood und drehte dort den Klassiker „Zwölf Uhr mittags“– verließ das Team. Umso bemerkensw­erter ist das Ergebnis. Die Kamera kommt den Menschen nahe, sie

dringt in deren Dunstkreis ein. Extreme Perspektiv­en und schnelle Schnitte spiegeln die Dynamik der Metropole, und dann gibt es immer wieder charmante Einfälle wie die Szene, in der zwei Verliebte einen Tannenzapf­en auf der Handfläche rollen. Kuss-Anbahnung in den Roaring Twenties. Den Rest zeigt„Babylon Berlin“.

Überhaupt die kleinen Beobachtun­gen: das Kind, das von seinem Vater an einer Wasserpump­e robust den verschmier­ten Mund abgewischt bekommt. Die Bewegung, mit der der livrierte Kellner den Kaffee reicht. Die Werbeschil­der, die Maniküre für eine Mark verspreche­n. Der Plattenlad­en, der das Lied „In einer kleinen Konditorei“verkauft. Man merkt in jeder Einstellun­g die Lust am Leben, die Lust an diesem Ort, die Freude am Flanieren und an der Möglichkei­t, sich frei zu bewegen.

Nur leider ist kein Sonntag endlos, und so dauert auch dieser Film nur etwas mehr als 70 Minuten. Am Ende sieht man Zwischenti­tel auf schwarzem Grund. „Und dann am Montag wieder Arbeit, wieder Alltag, wieder Woche“, steht da. Und was damals galt, ist heute noch so: „4 Millionen warten auf den nächsten Sonntag.“

Menschen am Sonntag, Regie: Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer, Drehbuch: Billie Wilder, 74 Min., Atlas Film (Mediabook mit DVD und BluRay plus Booklet)

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Brigitte und Wolfgang im Wasser.
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Christl am Ufer.
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Picknick am Wannsee.
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FOTOS: VERLEIH Erwin und Wolfgang.

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