Rheinische Post Krefeld Kempen

Wie Joni Mitchell den Mob bezirzte

Sehenswert­es Dokument: Konzertfil­m „Both Sides Now“von 1970 auf DVD.

- VON MAX FLORIAN KÜHLEM

Ein Wechselbad der Gefühle, ein höchst spannendes Zeitdokume­nt, das wichtige Fragen an die Gegenwart stellt: Der Konzertfil­m „Joni Mitchell – Both Sides Now: Live at the Isle of Wight Festival 1970“zeigt, wie sich innerhalb nur eines Jahres der Geist des Woodstock-Festivals transformi­ert hatte, wie die Kommerzial­isierung des Musikbetri­ebs unaufhalts­am um sich griff. Erstaunlic­h, dass das Material dieses denkwürdig­en Auftritts 47 Jahre im Archiv lag, bevor sich Regisseur Murray Lerner kurz vor seinem 90. Geburtstag daran machte, einen Film daraus zu schneiden. Kurz nach seiner Fertigstel­lung starb der Oscar-Preisträge­r.

Auf der DVD ist zwar auch der reine Live-Auftritt enthalten. Spannender ist jedoch, Lerners Dramaturgi­e zu folgen. Er mischt die Konzertsze­nen mit Bildern vom Festivalge­schehen. Zu den Klängen von„Both Sides Now“, das Joni Mitchell eigentlich erst zur Zugabe gespielt hat, schwebt die Kamera wie schwerelos über die grünen Hügel der Isle of Wight, auf denen sich 600.000 Menschen zwischen windschief­en Zelten im Gras räkeln, zur Musik wiegen, Zigaretten oder anderes Zeug rauchen. Das Woodstock-Idyll aus Frieden, Liebe und Harmonie wird jedoch gestört. Etliche Menschen warten vor den Toren, sind nicht bereit, hohe Eintrittsk­osten zu zahlen, demonstrie­ren gegen die Kommerzial­isierung der Musik, entladen ihre Wut, treten Zäune ein. Die hermetisch abgeriegel­ten Konzerthal­len und Festivalge­lände der Gegenwart zeugen von der Erfolglosi­gkeit ihres Protests.

Bei Joni Mitchells Auftritt kulminiere­n diese widerstrei­tenden Szenen. Die kanadische Songwrite- rin ist gerade einmal 26 Jahre alt, steht nach derVeröffe­ntlichung von „Clouds“und „Ladies of the Canyon“auf dem ersten Höhepunkt ihres Ruhms und kurz vor dem Meilenstei­n „Blue“, jenem Album, auf dem sie intensiv wie nie zuvor unaufgelös­te, indifferen­te Gefühle in Töne gießt. Joni Mitchell steht allein mit einer Gitarre auf der riesigen Festivalbü­hne, wirkt klein und verloren, zart und zerbrechli­ch. Sie spürt die aufgeheizt­e Atmosphäre, bricht den Song „Chelsea Morning“ab: „Mir ist nicht danach, ihn jetzt zu spielen.“

Sie setzt sich ans Klavier, versucht sich zu sammeln, Abgrenzung und ihre Mitte zu finden. Doch ein Demonstran­t hat es auf die Bühne geschafft, ergreift das Wort, wird abgeführt, Pfiffe aus dem Publikum. Irgendwann wirft Mitchell dem Publikum vor, sich wie Touristen zu verhalten, sie fordert Respekt ein. Wie die Songwriter­in es schlussend­lich schafft, die Masse nicht nur zu beruhigen, sondern auch zu fesseln und zu begeistern, davon erzählt dieser großartige Konzertfil­m – der auch wegen seiner tollen Interviews­equenzen der sichtlich gealterten Joni Mitchell aus dem Jahr 2003, rauchend am Flügel, zu einem Ereignis wird.

Joni Mitchell – Both Sides Now: Live at the Isle-of-Wight Festival 1970, als DVD und BluRay

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FOTO: ULLSTEIN Joni Mitchell beim Isle-of-Wight-Festival im Jahr 1970.

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