Rheinische Post Krefeld Kempen

Das Kartenhaus an der Themse

Die Lust der britischen Politik an der Intrige ist legendär. Ihre Bühne steht in Westminste­r.

- VON MATTHIAS BEERMANN

Alles an diesem Ort ist wie gemacht für den Kampf. Das House of Commons, der Sitzungssa­al des britischen Unterhause­s im Londoner Westminste­r-Palast, ist eine Arena. Hier wird nicht palavert, hier wird gefochten, wenn auch nur mit Worten. Meistens jedenfalls.

In der Mitte des engen Raums, in dem nur 427 der insgesamt 650 Abgeordnet­en einen Sitzplatz finden, steht ein massiver Holztisch, an dessen Kopfende der Speaker thront, der Parlaments­präsident. Links und rechts davon klettern mit grünem Leder bezogene Bankreihen treppenart­ig nach oben. In Blickricht­ung rechts vom Speaker sitzt die Regierungs­mehrheit, links von ihm die Opposition. Wie zwei Armeen, die sich gegenübers­tehen. Vor den ersten Bankreihen befindet sich auf dem Teppich jeweils eine handbreite rote Linie, deren Überschrei­ten den Abgeordnet­en untersagt ist. Der Sicherheit­sabstand dazwischen misst zwei Degenlänge­n – man ahnt schon, warum.

Nun, es steht nicht zu befürchten, dass die hitzige Debatte über den Brexit in dieser Woche wie in vergangene­n Jahrhunder­ten in einem blutigen Waffengang endet. Aber das Unterhaus in London hat sich eine virile Debattenku­ltur bewahrt, neben der sich die Redebeiträ­ge im Deutschen Bundestag ausnehmen wie zaghaftes Gesäusel. Und dabei gehen den ehrenwerte­n Abgeordnet­en auch schon mal so richtig die Gäule durch. So wie dem Tory-Politiker Michael Heseltine, der 1976 während einer Debatte über dieVerstaa­tlichung der Werftindus­trie völlig ausrastete. Provoziert von den hämischen Schmähgesä­ngen linker Labour-Abgeordnet­er, ergriff Heseltine den während der Sitzungen am Kopfende der Speaker-Tafel abgelegten zeremoniel­len Streitkolb­en, um dieWaffe zornig in Richtung des politische­n Gegners zu schwingen. Das trug ihm einen scharfen Ordnungsru­f des Speakers ein sowie den Spitznamen „Tarzan“, den Heseltine seither freilich trägt wie einen Ehrentitel.

Eigentlich sollte die strikte Etikette des ehrwürdige­n Hauses direkte Konfrontat­ionen ja unterbinde­n. Direkt angesproch­en werden darf nur der die Sitzung leitende Speaker, auf andere Abgeordnet­e darf der Redner nur in der dritten Person Bezug nehmen. „My right ho- nourable friend“– mein ehrenwerte­r Freund –, gefolgt vom Wahlkreis des Angesproch­enen, ist die Anrede der Wahl. Doch man sollte nicht glauben, dass die gestelzten Höflichkei­ten irgendjema­nden am Austausch ausgesucht­er Beleidigun­gen hindern würden. Aber selbst auf derbe Attacken dürfen die Abgeordnet­en nicht mit Beifall oder gar Zwischenru­fen reagieren. Erlaubt sind nur ein zustimmend­es „Hear, hear“(Hört, Hört) oder „Aye“(Ja) und bei Ablehnung „No“(Nein).

Es ist also viel von Ehrenhafti­gkeit und Freundscha­ft die Rede in diesem Saal, aber Insider beschreibe­n Westminste­r eher als Ort der Missgunst und gepflegten Intrige. Politische Winkelzüge sind auch deswegen so verlockend, weil im House of Commons eine ausgeprägt­e Hackordnun­g herrscht, die dem Neid zuträglich ist. Es gibt die Stars, die sitzen auf beiden Seiten in der ersten Reihe, rechts die Regierung mit ihren Ministern, links die Opposition mit ihrem Schattenka­binett. Die Oratoren beider Lager treten an den Tisch und bemühen sich darum, bei ihren Ausführung­en möglichst lässig an einer der beiden Dokumenten­truhen aus neuseeländ­ischem Holz zu lehnen, die als Pult dienen. Dahinter jedoch erstreckt sich auf grünem Leder das graue politische Biotop der Hinterbänk­ler.

Ihnen ist es zwar – nach gnädiger Aufforderu­ng durch den Speaker – erlaubt, sich in die laufenden Debatten einzuschal­ten. Aber es ist schwer, sich auf den hinteren Bänken zu profiliere­n. Die ungeschrie­benen Regeln des Hohen Hauses verbieten es den Angehörige­n des Fußvolks, ein Redemanusk­ript zu verwenden. Wenn ein Novize es dennoch wagt, mehr als einen Spickzette­l hervorzuzi­ehen, wird er von den Traditiona­listen unbarmherz­ig mit lauten Rufen „Reading! Reading!“verpetzt.

Die Existenz auf den engen Hinterbänk­en des Unterhause­s ist also kein Zuckerschl­ecken. Hinterbänk­ler sind in Wirklichke­it nur Statisten, die gefälligst nach dem Willen der Parteiführ­ung abzustimme­n haben. Nur wenn es dann einmal eng wird, wenn wie jetzt im Ringen um den Brexit jede Stimme politische­s Gold wert ist, dann schlägt die Stunde der Hinterbänk­ler. Und einige versuchen, daraus Profit zu schlagen.

Es ist freilich ein Spiel mit hohem Risiko. Denn Abweichler in den eigenen Reihen, vor denen sich jetzt auch Premiermin­isterin Theresa May bei der Brexit-Abstimmung fürchten muss, werden gewöhnlich ziemlich rigoros auf Linie gebracht. Das ist die Aufgabe der„Whips“(Einpeitsch­er), an deren rabiater Vorgehensw­eise gemessen sich deutsche Fraktionsc­hefs ausnehmen wie brave Chorknaben. Wer nicht spurt, der wird kurzerhand in langweilig­e Ausschusss­itzungen verbannt oder bei den nächsten Wahlen von seiner Partei einfach nicht mehr aufgestell­t.

Über die skrupellos­en Methoden der Whips kursieren in den Gängen von Westminste­r viele Gerüchte. So sollen widerspens­tige Abgeordnet­e vor der entscheide­nden Abstimmung über den Maastricht-Vertrag 1992 sogar mit der Drohung gefügig gemacht worden sein, man werde kompromitt­ierende Informatio­nen über sie an die Öffentlich­keit spielen.

Meist aber, so bekennt Gavon Williamson, der bis zu seiner Ernennung zum Verteidigu­ngsministe­r Ende 2017 Chief Whip der Tories im Unterhaus war, funktionie­re das mit dem Zuckerbrot besser als mit der Peitsche: „Es ist schon verrückt, was man auf diesem Weg alles erreichen kann.“Doch Williamson konnte auch anders. So pflegte er zur Einstimmun­g renitenter Parteifreu­nde eine Tarantel auf seinem Schreibtis­ch zu halten, die er „Kronos“getauft hatte – nach dem griechisch­en Titanen, der seine Kinder verschlang.

Der Job als Whip sei eben eine Drecksarbe­it, sagt Michael Dobbs, der es wissen muss. Jahrzehnte­lang war der Tory-Politiker Dobbs, der heute als Lord im britischen Oberhaus sitzt, als Strippenzi­eher im Londoner Politbetri­eb unterwegs. Der „Guardian“nannte ihn 1987 „Westminste­rs Auftragski­ller“. Politik sei wie das Leben, erklärt Dobbs, der auf Grundlage seiner Erfahrunge­n in den Kulissen der Macht die britische Romanvorla­ge für den vor Zynismus triefenden Politthril­ler „House of Cards“schrieb: „Man muss Leute versetzen, den einen oder anderen feuern, manchmal auch gute Freunde.“

Die Drecksarbe­it in diesen Tagen muss Julian Smith erledigen. Im Auf- trag der Premiermin­isterin soll der Chief Whip der Tories so viele Abgeordnet­e wie möglich dazu bewegen, für den von der Regierung ausgehande­lten Brexit-Vertrag zu stimmen. Und das über die Parteigren­zen hinweg, denn in den Reihen der regierende­n Konservati­ven gibt es einfach zu viele Gegner des Abkommens. Es geht also um jene, die möglicherw­eise noch schwanken. Und um jene, die man vielleicht unter Druck setzen oder mit irgendeine­r Vergünstig­ung locken kann.

Zahlreiche Abgeordnet­e von Tories und Labour wurden bereits in „privaten Zusammenkü­nften“intensiv beknetet, einige wurden sogar zum Abendessen in die Downing Street 10 eingeladen, den Sitz der Premiermin­isterin. Aber die Angelegenh­eit lässt sich diesmal ausgesproc­hen zäh an. Einige der Um-

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8 worbenen prahlten sogar in der Presse damit, wie viele Einladunge­n zum politische­n Beichtgesp­räch sie schon standhaft ausgeschla­gen hätten.

Mit so etwas muss Jacob ReesMogg gar nicht erst kokettiere­n. Der elegant näselnde Eton-Absolvent, der in seinen maßgeschne­iderten Zweireiher­n mit den goldenen Manschette­nknöpfen wirkt wie die fleischgew­ordene Karikatur des englischen Upperclass-Snobs, führt die interne Fronde der Konservati­ven gegen Mays Brexit-Kurs an. Es ist ein offenes Geheimnis, dass der distinguie­rte Gentleman seine Parteichef­in am liebsten zum Teufel jagen würde. Aber so formuliert man das im Unterhaus natürlich nicht. Vielmehr stand Rees-Mogg Mitte November im Parlament auf und fragte sich an seine „ehrenwerte

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8 Freundin“gewandt, ob er nicht einen Brief schreiben solle. Und zwar an seinen ebenfalls höchst ehrenwerte­n Freund, den Abgeordnet­en von Altrincham and Sale. Der sammelt traditione­ll die Misstrauen­svoten gegen die eigene Regierung ein.

Wenn mindestens 48 blaue Briefe bei ihm eingehen, muss sich die Regierungs­chefin einer Kampfabsti­mmung stellen. Doch so weit wird es vielleicht gar nicht kommen, denn wenn May mit ihrem Brexit-Vertrag im Unterhaus scheitert, dürfte die Opposition den Tory-Frondeuren die Mühe abnehmen. Die mögliche Folge wäre eine vorgezogen­e Neuwahl, und im Kartenhaus an der Themse würde das Blatt neu gemischt. Das politische Ränkespiel aber, so viel ist sicher, ginge munter weiter. Auf der Insel bricht man nicht gerne mit alten Traditione­n.

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FOTO: DPA Haushaltsd­ebatte im House of Commons. Weil es für gut ein Drittel der Abgeordnet­en keine Sitzplätze gibt, herrscht bei wichtigen Sitzungen heilloses Gedränge. Und die meisten Aufnahmen aus dem Hohen Haus sind (wie diese hier) leicht unscharf. Sie stammen von den fest montierten TV-Kameras – ansonsten ist Fotografie­ren und Filmen im Saal strikt verboten.
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