Rheinische Post Krefeld Kempen

Jedes Jahr vor Weihnachte­n verwandeln sich Lehrer und Logopäden in einer niederrhei­nischen Scheune. Ein Konzert lang sind sie wieder Teenager, denen Musik alles bedeutet. Von Sebastian Dalkowski

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möchte. Aber man lebt in Uedem oder Kalkar, in Appeldorn oder Wissel.“Seine Alben brennt er selbst, verkauft sie auf Konzerten, in der Hoffnung, es würde mehr daraus werden. Einmal fragt ein Label nach, ob er weitere Sachen schicken könne. Er schickt weitere Sachen und hört nichts mehr von ihnen. Dann kommt das Loch.

2010 bricht er sein Germanisti­k-Studium in Düsseldorf ab und zieht zurück nach Hause. Was nun? Eines Tages sitzt er mal wieder mit Philipp zusammen. Philipp, ein Jahr jünger, hat drei Dinge mit Arndt gemeinsam: Er kommt aus demselben Dorf, sitzt auch in einem Loch, weil er ziellos in Bonn herumstudi­ert, und spielt in einer Band, für die es im Kreis Kleve kaum Möglichkei­ten gibt aufzutrete­n. Mit 15 hält er seine erste Akustikgit­arre in den Händen, in der Oberstufe lernt er einen Jungen namens Malte kennen, sie gründen eine Band, „Warum eigentlich Champagner“, weil sie einmal die Siegerehru­ng nach einem Formel-1-Rennen gucken, und Philipp fragt, warum eigentlich Champagner. Ein Jahr und eine Handvoll Auftritte später löst sich die Band wieder auf. Das Studium. 2010 gründet er die nächste Band.

Doch wo bitteschön auftreten in der Provinz? Mit dieser Musik. Zuerst haben sie bloß die Idee, zwei Konzerte für sich und ein paar andere Bands zu veranstalt­en. Irgendjema­nd kann sicher das Mischpult bedienen. Schon mit dem ersten Flyer zeigen sie, dass sie bloß nicht zu profession­ell wirken wollen. DieWörter schneiden sie aus Zeitungen aus. Arndts jüngerer Bruder darf auch mit seiner Band auftreten. Verrückt ist, dass die Leute kommen. Arndt und Philipp haben keine Wahl, sie müssen weitermach­en. Bands im Landkreis, die es sonst schwer haben, Auftritte zu finden, spielen für Musikfans, die sonst nicht wüssten, wohin am Samstagabe­nd. „Kein Platz für Konzerte“ist geboren.

Arndt und Philipp haben mehr Energie als Plan. Sie müssen Wirte überzeugen.

Sie müssen Bands finden, deren Musik mindestens okay für sie ist. Indie-Pop, Rock, Singer/Songwriter. Klangtest, Fallen Leaves In June, Milford Sound, El Chupacabra­s. Dann die Soundanlag­e aufbauen. Für die Bands kochen, Eintritt kassieren. Schleppen. Einmal besteht ein Wirt auf Se-

Arndt Jansen curity. Der Typ hat den ruhigsten Abend seines Lebens. „Niemand, der ein Idiot ist, interessie­rt sich für das, was wir machen“, sagt Arndt einmal. Dann werden aus zwei Veranstalt­ern vier.

Flo war als Besucher zum ersten Konzert gekommen. Seine eigene Band heißt Back To California und spielt Classic Rock, und er schickt Arndt eine Mail, ob sie nicht auch auftreten kann. Wenn es jemandem zuzutrauen ist, morgens nicht als erstes nach dem Smartphone zu greifen, sondern nach der Gitarre, dann Flo. Während seine Mitschüler damals auf dem Gymnasium Nu-Metal und HipHop hören, hört Flo Deep Purple und Led Zeppelin. Ein Freund nimmt ihn mit zum E-Gitarren-Unterricht. Im ersten Jahr übt Flo nicht, dann merkt er, dass er etwas gefunden hat, das er nicht mit anderen teilen muss wie Fußball oder Leichtathl­etik. Mit 18 Jahren gibt er selbst Gitarrenun­terricht. Er interessie­rt sich für die Technik, die Arndt egal ist. Auch deshalb holen sie ihn ins Team.

Den Schlagzeug­er seiner Band fragen sie gleich auch. Willis Getrommel mit den Fingern nervte eine Mitschüler­in einst so sehr, dass sie sagte: Geh doch mal Schlagzeug spielen. Macht er. Weil er in derselben Stadt aufwächst wie Flo, laufen sie sich bereits als Jugendlich­e über den Weg.

Zu viert machen sie weiter. Das Beste aus den bescheiden­en Mitteln heraushole­n. Sie veröffentl­ichen Sampler mit eigenem Design, lassen T-Shirts bedrucken, aber nicht die billigsten. Und sie bleiben im Landkreis, bloß die Bands dürfen auch von anderswo kommen. Die Zuschauerz­ahlen stagnieren, aber darum geht es nicht. Besser soll es werden, nicht größer. Abende, zu denen sie selbst gerne gehen würden. Nie gibt es einen Hype, nie gerät eine der Bands in Gefahr, berühmt zu werden. Es gibt Hits, aber es sind die Hits von 150 Leuten. Nie erhält irgendwas im Internet mehr als ein paar Hundert Aufrufe. Man liked „Kein Platz für Konzerte“nicht, man liebt es.

Dann ist da noch dieses besonderst­e unter den besonderen Konzerten. Schon im ersten Jahr veranstalt­en Arndt und Philipp ein Konzert kurz vor Weihnachte­n. Alle kehren zurück in ihre niederrhei­nischen Dörfer und wollen sich wiedersehe­n, anstatt aufs Christkind zu warten. Im dritten Jahr fehlt ihnen ein Raum, aber Arndts Freundin hat eine Scheune. Zum ersten Mal können sie alles selbst bestimmen. Jedes Jahr Gedränge in der Scheune, Philipp backt vegane Waffeln bis zur Erschöpfun­g. Das Weihnachts­konzert wird zur Alternativ­e für all die Leute, die keine Lust haben, sich in der Kneipe zu betrinken.

Konzerte von „Kein Platz für Konzerte“sind auch immer ein Fest der Freundscha­ft. Menschen sehen sich dort nicht nur wieder, sie lernen sich auch kennen. Philipp trifft die Frau, für die er später nach Berlin ziehen wird. Musiker gründen neue Bands. Das ist kein Bandwettbe­werb, wo der eine dem anderen nichts gönnt. Das ist eine Familie, in der alle möglichen Musiker einen Platz finden.

Christian, der schon im Kindergart­en Gitarre spielen will, weil die Kindergärt­nerin das auch macht. Doch erst mal darf er nur in den Glockenspi­elkurs. Matthias, der noch weiß, an was er mit neun Jahren baute, als er zum ersten Mal „Appetite For Destructio­n“von Guns n‘ Roses hörte, nämlich an der Polizeista­tion von Lego. Gerrit, der seine Schulzeit im Jugendzent­rum verbringt und im Proberaum, einem Hühnerstal­l mit Blut und Kacke an denWänden. Lieber übernachte­t er dort als zuhause, weil es da Stress gibt. Alle haben dort einen Platz. Im März 2016 erfahren sie, dass es diesen Platz nicht mehr geben wird, nach mehr als 50 Konzerten. „Auszeit!“überschrei­ben die Veranstalt­er den Eintrag auf der Webseite. „Wir vier wohnen mittlerwei­le an vier verschiede­nen Orten. Im Moment reicht die Zeit einfach nicht mehr richtig aus.“

Von dieser Auszeit sind sie bis heute nicht zurückgeke­hrt. Alle Entwicklun­gen liefen gegen sie. Nicht nur, dass ihre Zuschauer zum Studieren und Arbeiten an alle möglichen Orte gezogen sind. Nicht nur, dass sich Bands aus demselben Grund auflösten und keine neue Bands nachkamen, weil junge Leute nicht mehr in dem Ausmaß Bands gründen. Nicht nur, dass viele Kneipen dicht sind, in denen sie Konzerte gegeben haben. Auch ihr Leben hat sich verändert. Philipp ist jetzt Kindergärt­ner, Willi arbeitet in Köln fürs Fernsehen. Flo hat sein Philosophi­estudium nach dem Bachelor geschmisse­n, studiert Musik in Enschede.

Bei Arndt ist es noch mal anders. Musikmache­n und Konzertver­anstalten verlieren nicht nur an Bedeutung, weil er Logopäde wird und nach Krefeld zieht. Da ist noch seine Freundin, die ihm zeigt, dass es neben der Musik noch was anderes gibt. Er hat dieses größte aller Gefühle ja oft genug besungen. Über den ersten Kuss auf einem Konzert der Musikerin Feist wird er in einem Song singen: „My heart was louder than the voice of the Canadian girl.“2013 veröffentl­icht er sein letztes Album. Ihm ist passiert, was einem Singer/Songwriter nicht passieren darf: Er ist glücklich. 2018 heiraten sie und feiern in und vor der Scheune. Die Gäste sind beinahe dieselben wie auf den Konzerten.

Doch ein Konzert können Arndt, Philipp, Flo und Willi nicht begraben. Das Weihnachts­konzert ist heilig. Als es 2017 in Gefahr ist, weil aus der Scheune eineWohnun­g werden soll, bieten mehrere Leute ihre eigene Scheune an. „Bevor das aufhört, kommt zu mir nach Hause.“

Sie und die anderen kommen vom Konzert nicht los. So richtig kommen sie auch vom Musikmache­n nicht los. Auch wenn niemand so viel Zeit hineinstec­kt wie Flo, der sein Studium in wenigen Wochen beenden wird.Willi trommelt unregelmäß­ig in zwei Bands. Arndt sagt, es gebe From Major To Minor, solange es ihn gebe. Kürzlich hat er wieder mehrere Konzerte gespielt. Am Schlagzeug saß Mathis, der seit der siebten Klasse hinter ihm am Schlagzeug sitzt und nun Lehrer ist. Matthias arbeitet in einem Tonstudio auf Mallorca. Gerrit arbeitet tagsüber in einem Autohaus, die restliche Zeit spielt er in einer Metalband und Coversongs auf Hochzeiten. Arndts Bruder ist nach Berlin gezogen, des Jobs wegen. Er schreibt noch immer Lieder, weil er weiß, dass es ihm danach besser geht als vorher.

In Berlin wohnt auch Malte, der Junge von„Warum eigentlich Champagner“. Malte macht kaum noch Musik, er macht heute was mit Social Media. Aber wenn, dann spielt er seiner Tochter was auf der Akustikgit­arre vor.

„Es geht nicht darum, was jemand kann, son

dern was er liebt.“

Musiker

Info Das Konzert ist am 22. Dezember, Beginn 20 Uhr, Landwehrst­raße 120, Goch-Pfalzdorf. Eintritt: 4 Euro. Mit: From Major To Minor, Soul Kiss und Fairytale For Fred

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