Rheinische Post Krefeld Kempen
Johnsons unmögliche Mission
ANALYSE Boris Johnson dürfte am Mittwoch neuer britischer Premierminister werden. Von Theresa May erbt er einen Haufen Probleme, allen voran den Brexit. Obendrein droht ihm entschlossener Widerstand aus den eigenen Reihen.
DieWahl zum nächstenVorsitzenden der britischen Konservativen Partei schloss am Montag erst am späten Nachmittag. Aber Sir Alan Duncan, Staatsminister im Auswärtigen Amt, war sich sicher, was die Stunde schlagen würde. Der 62-Jährige gehörte im Wahlkampf zu den leidenschaftlichsten Unterstützern von Außenminister Jeremy Hunt. Doch am Montagvormittag sah er für seinen Chef keine Chance mehr. Der Sieger und damit der nächste Premierminister, da war sich der Staatsminister sicher, wird Boris Johnson heißen. Und so zog er die Konsequenzen und trat zurück. Unter Boris Johnson, dessen Politik und Charakter Sir Alan Duncan wiederholt kritisiert und den er einmal als „Zirkusnummer“bezeichnet hatte, wollte er auf keinen Fall dienen.
Ein klassischer Fall von: Springen, bevor man geschubst wird. Ihm werden es noch viele Regierungsmitglieder nachmachen. Finanzminister Philip Hammond kündigte seinen Rücktritt am Sonntag live in einem Fernsehinterview an. Justizminister David Gauke wählte einen Meinungsbeitrag in einer Sonntagszeitung, um seinen Abgang zu verkünden. Andere Kabinettsmitglieder wie Entwicklungshilfeminister Rory Stewart oder Wirtschaftsminister Greg Clarke wollen ebenfalls Boris Johnson nicht dasVergnügen gönnen, sie zu feuern, und dürften deshalb, bevor er am Mittwoch offiziell ins Amt kommt, ihren Hut nehmen. Eine ganze Reihe weiterer, niederrangigerer Regierungsmitglieder – im Gespräch sind rund zwei Dutzend – wollen ebenfalls ihren Rücktritt einreichen. Der Exodus der Anti-Boris-Brigade beginnt. Noch bevor Johnson in die Downing Street einzieht, formiert sich der Widerstand gegen ihn – und das ausgerechnet unter den eigenen Parteifreunden.
Die erste parlamentarische Abstimmung hat Boris Johnson auch schon
verloren. In der vergangenen Woche rebellierten rund 50 Tory-Abgeordnete und ließen einen Gesetzeszusatz der Opposition passieren, der es der nächsten Regierung verwehren soll, das Parlament einfach zu suspendieren, um einen No-Deal-Brexit durchzudrücken. Es ist derWiderstand gegen einen ungeregelten Austritt, der die Rebellen innerhalb der Regierungsfraktion motiviert. Nachdem Boris Johnson während des Wahlkampfes vollmundig einen „Do-or-Die-Brexit“versprach, einen unbedingten Austritt zum 31. Oktober, „komme, was wolle“, und die Folgen eines„No Deal“schönredete, ist die Angst auf den konservativen Hinterbänken groß, dass zu Halloween der Horror-Brexit droht. Da ist den Abgeordneten die Nation wichtiger als die Partei. Selbst Premierministerin Theresa May hat sich dem Kampf gegen einen ungeregelten Austritt verschrieben und dürfte sich nach ihrem Rücktritt am Mittwoch der Anti-Boris-Brigade anschließen. Deren Anführer wird dann Philip Hammond heißen.
Kaum ein Premierminister dürfte jemals unter schwierigeren Bedingungen ins Amt gekommen sein. May hatte nur eine Minderheitsregierung angeführt, die dank eines Duldungspaktes mit der nordirischen Democratic Unionist Party an der Macht bleiben konnte. Die Regierung hat zur Zeit eine Arbeitsmehrheit von vier Stimmen, nach einer Nachwahl in der nächsten Woche werden es aller Voraussicht nach nur noch drei sein. Johnson würde diese schwierige Arithmetik erben und darf zugleich entschlossenenWiderstand aus den eigenen Reihen erwarten, sollte er einen No-Deal ansteuern.
Zudem muss er sich um eine aktuelle und brandgefährliche außenpolitische Krise mit dem Iran kümmern und verhindern, dass sich der Streit um die beschlagnahmten Öltanker zu einem militärischen Konflikt ausweitet. Großbritannien hatte Anfang Juli einen iranischen Tanker nahe Gibraltar aufgebracht, weil die „Grace 1“angeblich das EU-Embargo für Öllieferungen nach Syrien brechen wollte. Der Iran antwortete am vergangenen Freitag mit der Beschlagnahmung der unter britischer Flagge stehenden „Stena Impero“in der Straße von Hormus. Hintergrund ist der schwelende Streit zwischen den USA und dem Iran über den Atom-Deal. Großbritannien steht auf der Seite von Frankreich und Deutschland, die den Vertrag retten wollen, hat aber die Festsetzung der „Grace 1“angeblich auf amerikanischen Druck hin unternommen. Boris Johnson muss sich entscheiden, ob er weiterhin die europäische Linie halten und US-Präsident Donald Trump, den er seinen Freund nennt und dessen Hilfe er für ein günstiges Freihandelsabkommen braucht, die Stirn bieten will.
Die größte Baustelle und das schwierigste Problem, das seine Amtszeit ebenso dominieren wird wie die von Theresa May, ist der Brexit. Boris Johnson hat sich imWahlkampf in eine Ecke geboxt, aus der ein Rückzug schwer vorstellbar ist. Seinen Brexit-Plan kühn zu nennen, ist untertrieben. Er will das Austrittsabkommen wieder aufschnüren und nachverhandeln. Er will den Backstop streichen, der eine harte Grenze in Nordirland verhindern soll. Er will die vereinbarte Scheidungsrechnung nicht bezahlen und als Druckmittel für ein genehmes Freihandelsabkommen einsetzen. Sämtliche Ansinnen sind von der EU wiederholt zurückgewiesen worden. Sollte es zu einem „No Deal“-Brexit kommen, setzt der Premierminister in spe auf eine Stillstands-Vereinbarung auf der Grundlage des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens, die den bilateralen Handel wie gehabt weiterlaufen ließe. Experten halten das für illusorisch. Einwänden gegen seinen Brexit-Plan entgegnet Johnson mit einem burschikosen „Geht schon! Nur Mut! Wir schaffen das!“.
Optimisten hoffen, dass der Blondschopf doch noch einen realistischeren Brexit-Plan in der Schublade hat. Pessimisten fürchten, dass er wirklich meint, was er sagt, und das Land zu Halloween in einen Horror-Brexit führen wird.
Einwänden gegen seinen Plan begegnet er burschikos: „Geht schon! Nur Mut! Wir schaffen das!“