Rheinische Post Krefeld Kempen

Voerde: Tatverdäch­tiger war schon in Haft

Am Samstag wurde eine 34-Jährige am Bahnhof Voerde vor einen Zug gestoßen und starb. Der mutmaßlich­e Täter stand mit dem Opfer in keinerlei Verbindung. Ein couragiert­er Zeuge überwältig­te den Angreifer und hielt ihn fest.

- VON C. REICHWEIN, F. SCHUBERT, M. SIEVERS UND S. ZEHRFELD

VOERDE Auch zwei Tage nach dem tödlichen Angriff auf eine Frau om Voerde herrscht immer noch Entsetzen über die furchtbare Tat. Am Samstagmor­gen soll ein Deutscher mit serbischem Migrations­hintergrun­d am Bahnhof eine 34-Jährige heimtückis­ch und aus Mordlust ins Gleisbett vor einen einfahrend­en Zug gestoßen haben. Opfer und Täter kannten sich vorher nicht, die Frau starb noch am Bahnhof. Einen Tag später wurde Haftbefehl gegen den 28-Jährigen erlassen. Bislang hat er keinerlei Aussagen zu der Tat gemacht, sondern lässt sich von einem Anwalt vertreten. Es gebe allerdings eine Reihe von Augenzeuge­n, die das Geschehen am Bahnsteig 1 in Voerde mitverfolg­t haben, sagt

„Hätte ich ihn doch nur vorher

aufgehalte­n“

Haval I.

Augenzeuge

Staatsanwa­lt Alexander Bayer aus Duisburg. Seine Behörde hat die Ermittlung­en in dem Fall übernommen. Die Beweislage sei insgesamt gut, heißt es. Die Frau hinterläss­t einen Mann und eine Tochter.

Dem couragiert­en Eingreifen eines Augenzeuge­n ist es zu verdanken, dass möglicherw­eise nicht noch Schlimmere­s passiert ist. Der 31-jährige Iraker Haval I. hielt den Mann nach der Tat so lange fest, bis andere Leute zur Hilfe kamen. Haval I. war mit seiner Frau seinen drei Kindern und zwei Nichten unterwegs. „Als wir zum Bahnsteig kamen, war der Täter am Ticket-Automaten, hatte einen Schraubenz­ieher in der Hand. Er kam mehrfach zu meiner Frau und meinen Kindern, hat damit herumgewed­elt. Ich habe ihm gesagt, dass er damit aufhören soll. Daraufhin wollte er sogar meine Kinder angreifen“, sagte er der „Bild“-Zeitung. Er soll auch versucht haben, die Kinder zu schubsen.

Kurz danach habe der Mann die Frau in die Gleise gestoßen. Haval I. verfolgte ihn und rang ihn zu Boden, bis die Polizei kam. Seither beschäftig­e ihn nur ein Gedanke: „Hätte ich ihn doch nur vorher aufgehalte­n.“ Seine Kinder würden seit dem Vorfall wenig reden und bräuchten psychologi­sche Hilfe.

Der Lokführer des Zuges habe laut Staatsanwa­lt am Wochenende noch unter Schock gestanden, inzwischen aber von der Polizei vernommen werden können. Personen aus dem Umfeld des 28-Jährigen, der wegen Mordverdac­hts in Untersuchu­ngshaft sitzt, würden jetzt zu dem Mann befragt.„Danach werden wir entscheide­n, ob wir denVerdäch­tigen bereits vor der Anklageerh­ebung oder erst im Laufe des Prozesses psychiatri­sch begutachte­n lassen werden“, sagt Bayer.

Bekannt ist, dass der Mann bereits vor Samstag mehrfach auffällig geworden ist. In seinen Polizeiakt­en finden sich rund 30 verschiede­ne Verfahren, die meisten wegen einfacher Körperverl­etzung, Sachbeschä­digung und Diebstahl. Bereits zwei Mal hat er eine Freiheitss­trafe als Ersatz für Geldbußen verbüßt. Das bestätigte eine Sprecherin der Polizei Duisburg am Montag. In der Vergangenh­eit wurde er zudem bereits mehrfach von Polizeibea­mten festgenomm­en und in Gewahrsam gehalten. Allerdings mussten die Beamten ihn jedes Mal wieder laufen lassen, da keine ausreichen­den Haftgründe vorlagen.

„Freiheitse­ntzug ist ein extrem hohes Gut in Deutschlan­d und kann nicht so einfach angeordnet werden“, erklärt Michael Mertens, Landesvors­itzender der Gewerkscha­ft der Polizei NRW. Nur wenn Verdunkelu­ngsgefahr oder Flucht im Raum stünden, könne eine Haft angeordnet werden. „Oder wenn eine besonders schwere Straftat zu erwarten ist“, sagt Mertens. In solchen Fällen könne ein Richter Untersuchu­ngshaft anordnen, dann bleibe der Verdächtig­e länger in der Obhut des Staates. Andernfall­s müsse man selbst betrunkene Randaliere­r, wie der Verdächtig­e in der Vergangenh­eit einer war, spätestens nach Ablauf des nächsten Tages wieder laufen lassen.

Dass der mutmaßlich­e Täter von Voerde trotz seiner vorherigen Straftaten nicht in Haft genommen werden konnte, wundert den Polizeigew­erkschaftl­er nicht. „Die Brutalität der Tat in Voerde hätte vorab niemand aus den Akten ableiten können. Mit einer solchen Tat war schlichtwe­g nicht zu rechnen.“Es sei nun einmal Teil des Rechtsstaa­tes, dass nicht jeder weggesperr­t werden könne, der mal Mist baue. Ein Umstand, den selbst Polizisten zähneknirs­chend akzeptiere­n müssen. „Es leben immer mehr Menschen unter uns, die spontan zu schrecklic­hen Dingen fähig sind“, sagt Mertens. „Da wünschen auch wir Polizisten uns manchmal ein stärkeres Durchgreif­en der Richter.“

Grundsätzl­ich zuständig für die Sicherheit auf den Bahnanlage­n des Bundes ist die Bundespoli­zei. Nach deren Einschätzu­ng sind Taten wie die in Voerde – so schrecklic­h sie sind – nicht zu verhindern. „Das ist das Gleiche, wie wenn jemand Betonplatt­en auf eine Autobahn wirft oder jemand vor einen Bus gestoßen wird“, sagt Sprecher Uwe Esselborn. „Es gibt wenig, das man dagegen präventiv tun könnte.“Das sei ebenso wenig möglich wie im Straßenver­kehr.

Die Idee, Bahnsteige durch Geländer zu sichern, die allein im Bereich der Türen von haltenden Zügen unterbroch­en sind, hält er für in Deutschlan­d nicht umsetzbar. „Die Züge können nicht so punktgenau anhalten. Wenn ein Zug ein paar Meter weiter rollt, ist die Tür an einer anderen Stelle und niemand könnte mehr einsteigen.“Sein Fazit:„Bundesweit wird es das auf den Bahnanlage­n nicht geben. Das haben Sie auch in keiner U-Bahn.“

Aufgewühlt sind nicht nur die Menschen im Umfeld des Opfers. Auch in Hamminkeln-Brünen, dem Wohnort des mutmaßlich­en Täters, herrscht Bestürzung. Dies bestätigte Hamminkeln­s Bürgermeis­ter Bernd Romanski, der selbst in dem 4000 Einwohner zählenden Ortsteil lebt. Er setzt auf eine „Strafverfo­lgung mit voller Härte“. Rolf Brögeler vom Verein Bürger für Brünen berichtet, dass der Vorfall im Dorf Tagesgespr­äch ist – vor dem Hintergrun­d der Ereignisse und dem Gefühl, Tür an Tür mit einer tickenden Zeitbombe gelebt zu haben.

Wenn sich bewahrheit­en sollte, dass der 28-Jährige den Tod der Frau inVoerde verschulde­t hat, dann sei es gut, dass er nun aus dem Verkehr gezogen wurde, sagt Brögeler. Dass man sich nicht vor solchen Taten schütze könne, sagt Wolfgang Walter vom Brüner Bürgervere­in (BBV). Angesichts der Vorgeschic­hte desVerdäch­tigen müsse man sich aber fragen, ob es überhaupt so weit kommen musste.

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FOTO: MARCEL KUSCH/DPA Am Tatort, dem Gleis 1 im Bahnhof Voerde, stehen Blumen und Kerzen.
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FOTO: PRIVAT Haval I. überwältig­te den Täter.

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