Rheinische Post Krefeld Kempen
Hängepartie auf 360 Metern
Bloß nicht schwindeln: Die Geierlay-Brücke ist eine der schönsten Hängeseilbrücken Europas. Für manche ist sie eine Grenzerfahrung, für andere Faszination – auf jeden Fall ist sie ein unglaubliches Erlebnis.
MÖRSDORF Der Blick in die Tiefe ist faszinierend. Mitten auf der Brücke bleibt Frank Hirt stehen und reckt seinen Kopf über das Geländer. Steil hinunter schaut er, ins gefühlte Nichts. Gut 100 Meter unter ihm fließt der Mörsdorfer Bach, den der 47-Jährige als Kind mit seinen Freunden im Sommer aufgestaut hat, um darin zu schwimmen. Für die Jungs war der kleine Bach damals ein großes Freibad, von hier oben ist heute nur ein Rinnsal zu erkennen. Es liegt daran, dass sich die Perspektive seitdem enorm verändert hat: Von einer Hängeseilbrücke über das Tal hätte damals keiner der spielenden Jungs auch nur geträumt. Für Hirt ist sie heute ein Wirklichkeit gewordener Traum. „Die Geierlay-Brücke bietet die Möglichkeit, die ganze Schönheit des Hunsrücks kennenzulernen“, sagt er.
Die 2006 im Rahmen eines Dorferneuerungsprogramms entwickelte Idee klang verrückt: eine 360 Meter lange Hängeseilbrücke zu spannen über ein abseits liegendes, mehr als 100 Meter tief eingeschnittenes Seitental im Hunsrück, im vermeintlichen Niemandsland. Von den meisten Bürgern im 700-Einwohner-Ort Mörsdorf wurde die Idee wieder vergessen, drei „Träumer“behielten die Hängeseilbrücke aber im Kopf. Drei Jahre später stellten Ingo Börsch, Hans-Peter Platten und der spätere Bürgermeister Marcus Kirchhoff sie erneut im Gemeinderat vor. „Wir sind losgezogen und haben alles versucht, um die Brücke auf denWeg zu bringen“, sagt Kirchhoff. Der jäh zu Tal stürzende Schieferhang Geierlay sowie die Planung und der Bau der Brücke durch Schweizer Expertenbüros waren dabei letztlich kein Problem.
Frank Hirts Blick von der Geierlay in die Tiefe ist von Begeisterung geprägt. Als gebürtiger Mörsdorfer, dessen Eltern im Ort leben, hat er früh von der Idee der Hängeseilbrücke gehört. In den 90er-Jahren initiierte der leidenschaftliche Läufer und Outdoor-Enthusiast im Ort einen Volkslauf, der für einige Jahre viele Teilnehmer anlockte. Die Strecke führte zwar nur an den Rand des Mörsdorfer „Canyon“, aber sie deutete das landschaftliche Potenzial der Region zumindest an.„Damals war an Trailwettkämpfe mit hohen Teilnehmerzahlen und die heutige Begeisterung für festeWanderstrecken wie Traumschleifen noch nicht zu denken“, erinnert sich Hirt. Heute führt mit dem Hunsbuckel-Trail im August ein ausgebuchter Langstrecken-Traillauf über die Brücke. Allein sechs Wanderstrecken unterschiedlicher Längen und Ansprüche binden die Geierlay unmittelbar mit ein.
Die einzigartige Lage inmitten einer satten Naturlandschaft ist der besondere Clou dieser Brücke. Ihr Platz, dazu der Blick in die Tiefe des „Geierlay-Canyons“, der die Menschen schwindeln lässt und sie zugleich fasziniert. „Auf der Brücke kannst du dich auf einen Blick in den Hunsrück verlieben“, sagt Frank Hirt. Er hat diese Begeisterung der Menschen hier schon oft erlebt. Es sind die unterschiedlichsten Leute, die aus den Niederlanden und Frankreich, aber auch aus Indien, Nord- und Südamerika oder Asien kommen. Manchmal tragen sie überraschend hohe Absätze und ziemlich feine Kleidung, meistens vor allem ihr Handy für ein Selfie in der Hand. So unterschiedlich die Gäste sind, die Brücke berührt sie alle. Ihre Einbindung in die Natur, in diese sanft und zugleich so schroff wirkende Hunsrücklandschaft, packt einfach. So sehr, dass die Menschen immer wieder kommen.
Dabei hat mancher Besucher erst einmal Berührungsängste, nachdem er aus Mörsdorf oder dem auf der anderen Brückenseite gelegenen Ort Sosberg herangewandert ist. Viele nutzen die schmalen Wanderwege durch das zerklüftete Tal, andere die breiten und flachen Hauptrouten zur Brücke. Dann stehen sie plötzlich an der Brücke. Mit ihrer Laufbreite von 80 Zentimetern wirkt sie in dieser Landschaft ein bisschen wie ein Bauwerk aus Lego. Selbst Unerschrockene bleiben vor dem ersten Schritt auf die Bohlen aus Douglasienholz stehen und schauen skeptisch.
Wenn besonders viele Menschen gleichzeitig auf der Brücke sind, schaukelt das Bauwerk sanft. Es sind Anblicke, bei denen Planer und Konstrukteure lächeln, weil dies normal ist für eine Hängeseilbrücke. Andere greifen in solchen Momenten hektisch zu den Geländerseilen, an denen ein Maschendrahtzaun als Absturzsicherung befestigt ist. Mancher Besucher hangelt sich mit mulmigem Gefühl an diesem Handlauf Schritt für Schritt über die Brücke. Für viele ist die Geierlay eine 360 Meter lange Mutprobe.
Für Frank Hirt bedeutet die Brücke ein Stück Freiheit. Im Tal rauscht der kleine Bach seiner Jugend, im Hintergrund drehen sichWindräder, die oft aus dem Morgennebel herausleuchten oder im Abendlicht schimmern. „Seit es die Geierlay gibt, bin ich wieder viel häufiger in der Mörsdorfer Landschaft unterwegs“, sagt Hirt. Genauso begeistert wie er seine Familie mit zur Brücke nimmt, erzählt er seinen Kunden im Sport- und Outdoorgeschäft in Kastellaun von dem puristischen Erlebnis. „Mörsdorf ist zu einem Magneten des Tourismus geworden. Durch die Brücke hat die Landschaft mit ihren vielen Wegen an Reiz gewonnen – und auch der Ort selbst.“Hirt weiß um die kritischen Stimmen, die das Projekt, die hohe Zahl an Gästen und die „Brücken-Träumer“begleiten, aber er sieht vor allem das Positive. Es gibt viele infrastrukturelle Effekte: Cafés im Ort, gut gebuchte Ferienwohnungen und Gaststätten, ein stark frequentiertes Besucherzentrum und hohe Einnahmen für die Gemeinde.
Der Landesrechnungshof Rheinland-Pfalz spekulierte nur wenige Monate vor der Eröffnung der 1,3 Millionen Euro teuren Brücke, dass wohl nur etwa 7000 Menschen pro Jahr kommen würden. Obwohl eine Machbarkeitsstudie zuvor bis zu 170.000 Gäste pro Jahr prognostiziert hatte, mutmaßten die Prüfer grob übersetzt: eine krasse Fehlinvestition. Aber bereits zur Einweihung am 3. Oktober 2015 kamen 4000 Besucher, in der ersten Woche 30.000, im ersten Jahr mehr als 335.000 Gäste. „Seitdem haben wir eine deutliche Steigerung an Tagestouristen“, sagt Gadah Shatanawi, Leiterin der Tourist-Information (TI) Kastellaun. Davon profitieren nicht nur Gastronomen, sondern auch Gemeinden und Einzelhandel. Die Touristiker haben die Chance der Brücke erkannt: Wer von dort seine weitere Reise in den Hunsrück planen will, bekommt am Besucherzentrum in Mörsdorf passende Tipps.
Für viele ist die Brücke ein Nervenkitzel, eine Mischung aus mulmigem Gefühl und Begeisterung. Für Frank Hirt ist sie nach wie vor auch ein Platz, an dem er zu innerer Ruhe findet. „Es ist ein Ort, um Kraft zu schöpfen“, sagt er. Als er in Mörsdorf einst mit einem Lauftreff begann, waren die steilen Rampen des „Geierlay-Canyons“für viele eine Herausforderung. Heute verleihen sie der Hängeseilbrücke ihren einzigartigen Charakter. Das „Wow-Gefühl“der Geierlay ist ein Grund, den Hunsrück lieben zu lernen