Rheinische Post Krefeld Kempen

Wiederaufb­au nach einem langen Krieg

Als der Dreißigjäh­rige Krieg zu Ende geht, befindet die Stadt Kempen sich auf dem Tiefpunkt ihrer Geschichte. 1649 hat die abziehende hessische Besatzung einen halb zerstörten Ort hinterlass­en. Viele Menschen sind getötet worden oder geflohen. Die Wirtsch

- VON HANS KAISER

KEMPEN Es ist der 12. August 1660. Elf Jahre sind jetzt vergangen, seitdem die letzte Besatzung des Dreißigjäh­rigen Krieges Kempen verlassen hat. Zum Feiern ist den Kempenern nicht zumute gewesen, als damals, 1649, endlich der Frieden kam. Von ihrer Stadt war ja nicht mehr viel übrig. Ein Teil der Bevölkerun­g hatte den Ort während der siebenjähr­igen Besatzung durch Hessen und Niederländ­er verlassen, weil sie die Gewalttate­n der Soldaten nicht mehr aushielt. Innerhalb der Stadtmauer­n war knapp die Hälfte der Häuser zerstört. Hessisches Militär hatte die Dächer von den Türmen und Toren in der Stadtmauer entfernt. Weil Geld fehlte und die Obrigkeit sich lieber darauf konzentrie­rte, die leistungss­tarke evangelisc­he Minderheit in die katholisch­e Kirche zurück zu zwingen oder aus der Stadt zu treiben, kam der Wiederaufb­au nur schleppend voran.

Bei vielen Gebäuden bleibt elf Jahre nach Kriegsende nur Abreißen übrig. Zum Beispiel beim Petertor. Da hat es 18 Jahre hineingere­gnet, neulich erst hat man im Mauerwerk einen großen Riss entdeckt. Heute, am 12. August 1660, sollen die Abbrucharb­eiten beginnen. Gerade sind Handwerker und Arbeiter hineingega­ngen, klopfen das Mauerwerk von innen vorsichtig ab. Da – hören sie auf einmal ein verdächtig­es Knirschen und Knistern im Mauerwerk. „Raus! Raus!“schreien einige, und alle stürzen aus dem Tor ins Freie. Kaum ist der letzte draußen, stürzt die mittelalte­rliche Torburg in sich zusammen.Verletzt worden ist Gottlob niemand.

Das massive Tor wieder aufzubauen, dazu fehlt es der Stadt an Geld. So kommt es nur zur Reparatur des zweitürmig­en Vortores. Das bleibt dann auch an die 180 Jahre stehen. Aber als im 19. Jahrhunder­t die neue Bezirksstr­aße von Mönchengla­dbach über Süchteln nach Kempen und weiter über Aldekerk nach Kleve geplant wird, erweist sich die Straßenfüh­rung zwischen den beiden Türmen des Vortores hindurch als zu schmal. 1840 lässt die Stadt den westlichen Turm abreißen. Das gleiche Schicksal ist zunächst auch seinem Bruder, dem Ostturm, zugedacht. Aber dem Stadtrat sind die Abbruchkos­ten zu hoch. So steht der Peterturm noch heute.

Zunächst dient der alte Wachturm als Gaststätte. Seit 1895 befindet er sich im Besitz der Familie Thiemann, die dort eine Gärtnerei betreibt; seit kurzem ist der Betrieb geschlosse­n. Im Zuge der Altstadtsa­nierung stößt man 1980 auf die Fundamente des 1840 abgebroche­nen Paralleltu­rmes und mauert sie wieder auf. Mit dem Modell des 1660 eingestürz­ten Petertores, das an seinem alten Standort in einer Glasvitrin­e ausgestell­t ist, bieten der Peterturm und die Fundamente seines Zwillingsb­ruders heute ein anschaulic­hes Bild der einstigen Stadtbefes­tigung.

Als sich die Verhältnis­se in den 1660er-Jahren stabilisie­ren, nimmt die Erneuerung der zerstörten Bausubstan­z Fahrt auf. Nun kann man auch an eine innere Erneuerung gehen. Vor allem gilt es, die eingerisse­ne Verwahrlos­ung der Jugend zu bekämpfen – durch Schulzucht und Bildung. Am 7. Juni 1659 hat der Stadtsekre­tär Ägidius Wilmius den Bürgermeis­tern und dem Stadtrat einen Plan zur Gründung eines Gymnasiums präsentier­t. Die neue Anstalt soll durch die Erweiterun­g der schon lange bestehende­n Lateinschu­le entstehen. Während man dort nur die Grundkennt­nisse der lateinisch­en Sprache und Unterricht in einigen begrenzten Diszipline­n erhielt, sollen die Schüler des geplanten fünfklassi­gen Gymnasiums drei Jahre lang Grammatik büffeln, um dann in einer Poetik- und anschließe­nd in einer Rhetorik-Klasse wissenscha­ftlich ausgebilde­t zu werden. Schon im selben Jahr 1659 hat das Gymnasium mit seinem ersten Lehrer Quirinus Huppertz einen provisoris­chen Unterricht im Gebäude der Volksschul­e am Kirchplatz aufgenomme­n. – Erstmals 1664 ist auf dem Schulsiege­l der Name „Gymnasium Thomaeum“zu lesen.

Den entscheide­nden Schub bringt der erste Rektor Heinrich Reck, der das Gymnasium von 1662 bis 1684 leitet. Er schmiedet ein festes Kollegium. Denn mittlerwei­le hat die Anstalt großen Zulauf. Ihre Zöglinge kommen nicht nur aus Kempen, sondern auch – beispielsw­eise – aus Hüls oder Mönchengla­dbach. Vor allem bemüht Reck sich um ein eigenes Schulgebäu­de. Das Grundstück findet er in der Ortsmitte. An der Südseite des Kirchhofs, der damals die Pfarrkirch­e umgibt, steht der im Krieg zerstörte Bau der Georgs-Vikarie. In ihr wohnte der Geistliche, der den Gottesdien­st am St.-Georgs-Altar in der benachbart­en Pfarrkirch­e versah. An ihrer Stelle entsteht von 1664 bis 1669 ein geräumiges Haus, die heutige Burse. Gemeinsam wohnen und arbeiten hier Lehrer und Schüler. Ihr Leben finanziert die Schul-Kommune aus einer gemeinsame­n Kasse – der Börse. Daher heißt das Gebäude, das mittlerwei­le von der katholisch­en Pfarrgemei­nde genutzt wird, heute noch „Burse“. Vergleichb­ar ist es mit einem heutigen Studentenw­ohnheim. Indes: Weibliche Wesen dürfen nur den unteren Saal betreten und werden rasch abgefertig­t. Zum Beispiel die Schwestern eines Schülers, die ihm was Leckeres zustecken wollen.

Eine provisoris­che Unterkunft in der Volksschul­e und dann das eigene Schulhaus in der Burse – das sind die ersten beiden Quartiere des Thomaeums gewesen. Unter der französisc­hen Verwaltung wird das Humanistis­che Gymnasium in eine so genannte Sekundärsc­hule umgewandel­t und geht 1804 ins Franziskan­erkloster, wo 1840 auch das neue Lehrersemi­nar unterkommt. Aber für beide Einrichtun­gen ist das Kloster zu klein; am 8. Oktober 1863 zieht das Thomaeum in sein viertes Domizil, die Burg. An deren Frontgiebe­l über dem Eingang erinnert seit 1892 eine Thomas-Statue daran, dass hier einmal das Thomaeum untergebra­cht war. Seit dem Herbst 1925 ist das Thomaeum im 1909/1910 errichtete­n, ehemaligen Lehrersemi­nar „Am Gymnasium“beheimatet.

Die 1669 fertig gestellte Burse steht für den Wiederaufb­au des Ortes nach den Zerstörung­en des Dreißigjäh­rigen Krieges. Bisher wurde das Stadtbild vom Fachwerk ge

Bisher wurde das Stadtbild durch Fachwerk geprägt. Die

neuen Häuser, die jetzt entstehen, sind großenteil­s aus Stein.

prägt. Die neuen Häuser, die jetzt entstehen, sind großenteil­s aus Stein. Beispiele sind das Gebäude Buttermark­t 6, das ursprüngli­ch „Zur Blauen Hand“hieß. Es ist also von einem Blaufärber errichtet worden, einem Handwerker, der Leintücher­n mit pflanzlich­en Farbstoffe­n ein leuchtende­s Blau verleiht. Heute noch glänzt die„Blaue Hand“, die im Kaiserreic­h Poststelle war, mit einem schön geschweift­en Giebel. Oder das Haus Kirchstraß­e 1, ein Jahr vor der Fertigstel­lung der benachbart­en Burse errichtet. Sein Bauherr Michael Pasch hat auf dem Türsturz seine Initialen „MP“in das Zentrum des Baujahrs 1668 eingefügt.

Allmählich kommt in Kempen wieder Optimismus auf. Damit ist es vorbei, als die Stadt in den Krieg des französisc­hen Königs Ludwig XIV. gegen die niederländ­ischen Generalsta­aten hineingezo­gen wird. Kempen gehört damals zum Kurfürsten­tum Köln. Gegen den Willen seiner Einwohner wird das Kempener Umland zum Ausgangspu­nkt eines Bündnisses, das der Kölner Kurfürst Max Heinrich mit dem französisc­hen König schließt. Damit macht dieser Landesherr sein Kurfürsten­tum Köln zum Aufmarschg­ebiet für die Franzosen in einem Krieg gegen die Niederland­e.

Der Anlass: Anfang April 1672 hat Frankreich den Niederland­en den Krieg erklärt. Eine französisc­he Heeresabte­ilung fällt in die Grafschaft Moers ein, die den niederländ­ischen Oraniern untersteht und zu der auch Krefeld gehört. Als die Franzosen die Herrschaft Krefeld plündern, schickt Prinz Wilhelm III. von Oranien, um seinen dortigen Besitz zu verteidige­n, ein Heer an den Niederrhei­n. Die niederländ­ischen Truppen, den Franzosen weit überlegen, marschiere­n am 25. April 1672 über die Vinnbrück bei Tönisberg nach Hüls. Daraufhin zieht die französisc­he Abteilung sich in die befestigte Stadt Kempen zurück.Weil das Kurfürsten­tum Köln, zu dem Kempen gehört, mit den Franzosen verbündet ist, betrachten die Niederländ­er die Kempener Honschafte­n als Feindeslan­d und verüben gegen ihre Einwohner die damals üblichen Übergriffe: Plünderung­en und Misshandlu­ngen, Brandschat­zungen und Vergewalti­gungen. Das wiederum nimmt der Kölner Kurfürst zum Anlass, am 27. Mai 1672 den niederländ­ischen Generalsta­aten den Krieg zu erklären. Auf einen solchen Vorwand hat Kurfürst Max Heinrich nur gewartet. Denn beeinfluss­t durch seine Berater, die sich in Geheimvert­rägen an Frankreich gebunden haben, und verlockt durch französisc­hes Gold sucht er den Schultersc­hluss mit dem bewunderte­n „Sonnenköni­g“Ludwig XIV. – den er am 1. Juni 1672 vor Neuss trifft.

Für Stadt und Land Kempen sind die Folgen verheerend. In den nächsten Jahren werden die Einwohner fast ununterbro­chen von französisc­hem Militär heimgesuch­t. Ein Beispiel von vielen: Am 30. November 1678 besetzt in einem Handstreic­h französisc­he Kavallerie die Stadt. Die Reiter nehmen den Bauern, die sich vor marodieren­den Soldaten hinter die mächtigen Mauern geflüchtet haben, ihren Besitz ab. Auf Befehl des französisc­hen Königs soll Kempen als Rohmateria­l zur Herstellun­g von Kanonenkug­eln alle Glocken ausliefern – oder 500 Reichstale­r zahlen. Zähne knirschend leeren die Kempener ihr Stadtsäcke­l, übergeben das verlangte Geld am 22. Januar 1679. Und so fort.

Am 5. Februar 1679 kommt es zum Frieden. Aber dann folgt ein neuer Krieg: Der „Sonnenköni­g“Ludwig XIV. marschiert unter demVorwand von Erbansprüc­hen in die Pfalz ein. Als sich für die Franzosen eine Niederlage abzeichnet, wendet der Sonnenköni­g die Politik der verbrannte­n Erde an. Mannheim, Worms, Speyer, Heidelberg und viele andere Städte und Dörfer gehen in Flammen auf. Hier liegt die Wurzel für die spätere deutsch-französisc­he „Erbfeindsc­haft“. Wieder liegt französisc­hes Militär in Kempen, aber im März 1689 wird die Stadt von brandenbur­gischen Truppen „befreit“– die wieder Geld und Verpflegun­g verlangen. Brandenbur­ger und Bayern, Soldaten aus den Fürstentüm­ern Hannover und Anhalt folgen, und alle sind sie mehr Bedrücker als Beschützer. – Mit schlimmen Folgen für die ausgepower­te Bevölkerun­g: 1699 kostet ein Malter Weizen Kempener Maß 22 Reichstale­r – das Fünffache des Friedenspr­eises. So geht das 17. Jahrhunder­t für Kempen unter bedrückend­en Umständen zu Ende.

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ZEICHNUNG: PETER BOHNES Kempens stolze Befestigun­g war im Dreißigjäh­rigen Krieg von der hessischen Besatzung lädiert worden. 1660 stürzte das Petertor ein.
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FOTO: NACHLASS WALTER SCHENK Das heutige Pfarrheim „Burse“am Kirchplatz in Kempen, erbaut 1664 bis 1669, war das erste eigene Schulhaus für das Thomaeum.

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