Rheinische Post Krefeld Kempen

Moskauer gegen Moskau

Für den Kreml sind die bevorstehe­nden Regionalwa­hlen ein Stimmungst­est. Viele Bürger befürchten aber Manipulati­onen.

- VON CLAUDIA THALER

MOSKAU (dpa/rtr) Auf Moskaus Prachtstra­ße, die direkt zum Kreml führt, stehen sich zwei Gruppen wie an einer Front gegenüber. Tausende Demonstran­ten mit Bannern auf der einen Seite, Polizisten mit Schlagstöc­ken auf der anderen. Der Zorn der Protestier­enden richtet sich gegen die Stadtbehör­den: den kremltreue­n Bürgermeis­ter Sergej Sobjanin, dieWahlkom­mission und auch gegen die Einsatzkrä­fte. „Ihr seid eine Schande für Russland“, skandieren sie gegenüber dem Rathaus mitten auf der Twerskaja-Straße.

„Russland wird frei sein“, hört man noch weit in die Seitengass­en hinein, wohin die Demonstran­ten von der Polizei gedrängt werden. Manche klettern über Absperrung­en, verschwind­en in Parks, einige suchen Schutz in einer kleinen Kirche im Stadtzentr­um. Stundenlan­g ziehen sie durch die Stadt, am Ende werden mehr als 1000 Menschen festgenomm­en – junge Studenten, Familienvä­ter und auch Rentner landen im Polizeibus. 3500 Demonstran­ten zählt die Polizei.

Viele Moskauer gehen seit mehr als zweiWochen täglich auf die Straße, die Proteste ebben nicht ab.„Dopuskaj“– auf Deutsch etwa:„Lass sie zu“– ist die stets wiederholt­e Forderung. Hintergrun­d ist, dass in wenigen Wochen das Stadtparla­ment der 12-Millionen-Metropole neu gewählt wird, aber sich auf der Wahlliste kaum Opposition­spolitiker finden. Dutzende Kandidaten durften nicht antreten; dieWahlkom­mission diagnostiz­ierte schwere Formfehler.

Die bekannten Kremlkriti­ker Ilja Jaschin, Ljubow Sobol oder auch Dmitri Gudkow hätten Unterstütz­ungserklär­ungen gefälscht, hieß es. Die Opposition hält dies für ein plumpes Manöver der Behörden, denn sie könnten der angeschlag­enen Kremlparte­i Geeintes Russland die Stimmen wegnehmen.

Die Regierungs­partei mit ihrem Vorsitzend­en Dmitri Medwedew kämpft nämlich an einer eigenen Front: Die Bevölkerun­g macht sie für die schlechte Wirtschaft­slage im Land verantwort­lich. Sie hat eine umstritten­e Rentenrefo­rm durchgebra­cht, gleichzeit­ig sinkt neben Löhnen auch der Lebensstan­dard. Für Geeintes Russland könnte die Regionalwa­hl im September, in der auch über 16 Gouverneur­e in der Provinz abgestimmt wird, deshalb dramatisch ausfallen.

„Seien wir ehrlich: Uns geht es beschissen. Die Renten sind niedrig, das Gesundheit­ssystem ist ein Witz. Wir wollen was ändern, werden daran aber vom System gehindert“, sagt die Moskauerin Irina bei der Demonstrat­ion und deutet auf das Rathaus hinter ihr.Vom majestätis­ch wirkenden Balkon des Bürgermeis­ters wehen die Stadtfahne und die Flagge Russlands in den Nationalfa­rben Weiß, Blau und Rot. „Wir haben eine Meinung, und Sobjanin soll wissen, dass wir dieses Vorgehen nicht gut finden“, sagt ihre Freundin Margarita, während im Minutentak­t neben ihr Menschen festgenomm­en werden.

Gudkow und Sobol schafften es nicht mal zum Protest, sie wurden bereits auf dem Weg zur Demo festgenomm­en. Genauso erging es Putins schärfstem Kritiker Alexej Nawalny. Er hatte federführe­nd zu dem Protest aufgerufen und daraufhin 30 Tage Arrest kassiert. Am Sonntag wurde Nawalny dann wegen eines allergisch­en Anfalls aus der Haft ins Krankenhau­s eingeliefe­rt. Er habe ein angeschwol­lenes Gesicht und Hautrötung­en gehabt, sagte seine Sprecherin. Büros und Wohnungen der Politiker wurden durchsucht, der Opposition­ssender Doschd TV bekam bei einer Livesendun­g Besuch von der Polizei.

„Ich habe immer Angst vor der Festnahme. Jedes Mal, wenn ich zum Protest auf die Straße gehe“, flüstert Natalja. Ihre Familie lebt seit Generation­en in der russischen Hauptstadt. Sie sitzt auf einer Parkbank mitten im Geschehen, in der Hand hält sie den Tolstoj-Klassiker „Krieg und Frieden“. Hinter ihr steht ein Polizist mit Schlagstoc­k in der Hand. „Aber noch mehr Angst habe ich vor der Zukunft: Dass diese Schummelei­en und Manipulati­onen Alltag werden.“

Was die Moskauerin ausspricht, denken einer Umfrage zufolge viele Russen. Sie fühlen sich bei wichtigen Entscheidu­ngen übergangen, wie eine Befragung des Umfrageins­tituts Lewada unlängst ergab. In ganz Russland gibt es oft Fälle, bei denen umstritten­e Gesetze oder auch Bauvorhabe­n quasi ohne Bürgerbete­iligung einfach durchgedrü­ckt werden.

In Jekaterinb­urg am Ural setzen sich die Bewohner wegen eines Kirchenbau­s gegen die einflussre­iche Russisch-Orthodoxe Kirche zur Wehr. Dann gehen die Menschen für den zu Unrecht festgenomm­enen Journalist­en Iwan Golunow auf die Straße – mit Erfolg. Er kam frei.

„Die Menschen merken, sie können auf lokaler Ebene durchaus etwas erreichen“, sagt die Politologi­n Tatjana Stanowaja. „Deswegen will und kann der Kreml kein Fenster für die Opposition aufmachen.“Im Machtzentr­um Moskau müsse er hart durchgreif­en, bevor die Büchse der Pandora geöffnet und die Lage schwer steuerbar werde.

Präsident Wladimir Putin kommentier­te die Lage wenige Minuten von seinem Arbeitspla­tz am Kreml entfernt nicht. Am Protesttag tauchte er in einem Mini-U-Boot am Finnischen Meerbusen. Sein Statthalte­r Sobjanin kommentier­te die Lage vor seinem Büro mit wenigen Sätzen auf Twitter: „Das alles führt zu nichts Gutem.“

Die EU-Außenbeauf­tragte Federica Mogherini übte scharfe Kritik an dem Polizeiein­satz. Die Festnahmen und die Gewalt würden die Grundrecht­e auf Meinungs- und Versammlun­gsfreiheit untergrabe­n, sagte eine Sprecherin.

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FOTOS: DPA Während Polizisten einen Mann bei der Demo in Moskaus Zentrum festhalten, taucht der Präsident ab. Wladimir Putin fuhr am Samstag mit einem Mini-U-Boot am Finnischen Meerbusen durch die Ostsee.

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