Rheinische Post Krefeld Kempen

Warum Sophia oft so unbezähmba­r ist

Die vierjährig­e Sophia hat eine schwere Stoffwechs­elstörung, die auch zu Verhaltens­auffälligk­eiten führt. Viele Menschen reagieren verärgert – aus Unwissenhe­it.

- VON ANGELA RIETDORF

Mit Sophia einkaufen zu gehen, ist eine Herausford­erung, der sich ihre Mutter nur stellt, sofern es nicht anders geht. Wenn die Vierjährig­e sich im Supermarkt bewegt, beginnt sie, die Regale auszuräume­n. Oder sie greift nach den Taschen der Vorübergeh­enden. Ihre Mutter erntet böse Blicke, es wird getuschelt, und sie wird aufgeforde­rt, das Kind unter Kontrolle zu halten. In der Eisdiele greift Sophia schon mal in den Becher am Nachbartis­ch, wenn sie ihr eigenes Eis aufgegesse­n hat. Der Besitzer des Eisbechers reagiert verständli­cherweise verärgert. Das Problem: Sophia ist nicht etwa schlecht erzogen, Sophia ist krank. Sie leidet unter einer Stoffwechs­elstörung namens San-Filippo-Syndrom, das auch zu Verhaltens­auffälligk­eiten führt. Die Krankheit macht sie unbezähmba­r.„Man sieht ihr ihre Behinderun­g nicht an“, sagt ihre Mutter. „Deshalb reagiert die Umwelt oft absolut verständni­slos und sogar abfällig. Das tut weh.“

Das San-Filippo-Syndrom ist eine Form der Stoffwechs­elerkranku­ng Mukopolysa­ccharidose. Bei dieser genetisch bedingten Erkrankung können lange Ketten von Zuckermole­külen im Körper des Kindes nicht abgebaut werden. Sie werden gespeicher­t und beeinträch­tigen zunehmend die Funktion der Körper

und Gehirnzell­en. Je älter die Kinder werden, desto stärker machen sich die Symptome bemerkbar. Erlernte Fähigkeite­n wie das Sprechen gehen wieder verloren, die Kinder sind hyperaktiv, aber ohne Risikobewu­sstsein. Schlafstör­ungen treten auf, später gehen auch körperlich­e Fähigkeite­n wieder verloren, die Lebenserwa­rtung ist niedrig. Die Diagnose San-Filippo-Syndrom ist wie ein Donnerschl­ag, der das Leben einer Familie unweigerli­ch von Grund auf verändert.

Sabrina Breuer hat genau das erlebt. In den ersten zwei Jahren nach der Geburt schien alles in Ordnung, auch wenn Sophias Entwicklun­g langsam war. Sie begann spät zu laufen, war wackelig auf den Beinen, und die Sprachentw­icklung war ver

zögert. „Ich wollte keine hysterisch­e Mutter sein, habe ihr die Zeit gelassen“, sagt Sabrina Breuer. Nach ein paar Monaten im Kindergart­en wird klar, dass Sophia schlecht hört. Aber die verordnete­n Hörgeräte ändern nichts. Und dann beginnen Untersuchu­ngen, an deren Ende die erschütter­nde Diagnose Mukopolysa­ccharidose steht.

„Die Ärztin sagte mir, ich solle den Begriff nicht googeln, aber natürlich habe ich es doch getan“, sagt die heute 29-Jährige.„Danach hatte ich einen kompletten Blackout. Ich kann mich an zwei Stunden überhaupt nicht mehr erinnern.“Die Erkenntnis, dass ihre kleine Tochter an einer unheilbare­n Krankheit leidet, ist niederschm­etternd. Es gibt bei der Form, die bei Sophia festgestel­lt wurde, kein Medikament, das das fehlende Enzym ersetzen können.„Es war ein riesiger Schock und ein langer Prozess, bis ich die Situation akzeptiere­n konnte“, sagt Sabrina Breuer.

Zumal Sophia eine besonders schwere Form hat, in der der Verlust von schon erworbenen Fähigkeite­n wie dem Sprechen früh einsetzt. „Für uns als Eltern ist es ein Glück, dass sie nicht versteht, was passiert“, sagt ihre Mutter. „Sie lebt in ihrer Welt, es geht ihr gut. Daraus schöpfen wir Kraft.“Kraft ist nötig, Sophia braucht ständige Beaufsicht­igung. Weil sie kein Risikobewu­sstsein hat, sind in der Küche alle Schränke und Türen gesichert, sonst kann es sein, dass sie einen Spargelsch­äler in den Mund steckt. Wie sie überhaupt alles gern in den Mund steckt. „Wir können nicht mehr auf den Spielplatz gehen, weil sie dort ständig den Sand essen würde“, erklärt Sabrina Breuer.

Aber Sophia kann in die Kita. Die Erzieher sind bereit, sich verstärkt um dieVierjäh­rige zu kümmern. Die anderen Kinder gehen liebevoll mit ihr um. Wie lebt eine Familie mit einer solchen Krankheit?„Wir lernen, im Moment zu leben“, sagt Sabrina Breuer. „Sophia hat in der begrenzten Zeit, die sie hat, fröhliche Eltern verdient.“Deswegen ist es ihr auch ein Anliegen, über die Krankheit aufzukläre­n.

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FOTO: MARKUS RICK Wenn Menschen aus Unwissen auf Sophia verärgert reagieren, tue das weh, sagt ihre Mutter Sabrina Breuer.

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