Rheinische Post Krefeld Kempen

Als der Wagen nicht kam

- Von Manfred Lütz und Paulus van Husen

Die Russen sind für uns unverständ­lich, schlimmer im Quälen als die Gestapo, weil sie es sinnlos tun, während die Gestapoleu­te nur unmenschli­ch wurden, wenn sie etwas erpressen wollten. Ich stand also infolge der Barmherzig­keit des Juden bald auf der Straße, bereichert um die Erkenntnis, was von den Russen und der GPU zu halten war.

Es war die Christstra­ße, und sie führte auf den Friedrich-KarlPlatz, wo als Lichtblick das Kamilliane­rkloster auftauchte, zu dem ich von Oberschles­ien her gute Beziehunge­n hatte. Der Präfekt Pater Särnen erklärte jedoch, die Russen hätten den Klöstern verboten, Zivilperso­nen aufzunehme­n, und er könne das Kloster nebst Altersheim nicht gefährden. Man half mir wenigstens, wieder eine Schlinge um den Arm zu legen, und ich zog los in Richtung Herz-Jesu-Pfarrei wegen Pater Schluski. Die Front blockierte den Weg dorthin, und ich schwenkte um in Richtung auf das Frauenbund­haus am Lietzensee. Ich kam auch glatt über den Kaiserdamm. Plötzlich sah ich am Lietzensee deutsche Soldaten. Also fluchtarti­g kehrt und zurück, was auch ohne Beschuss gelang. Ich war in den menschenle­eren Straßen durch eine russische Frontlücke gelaufen. Den Sprung nach vorwärts hatte ich nicht gewagt, weil es immer riskant ist, gegen kämpfende vorderste Fronten anzulaufen, und weil ich nicht wissen konnte, ob ich nicht dort der SS in die Hände lief. Immer noch besser bei den Russen. So weit hatte Hitler es gebracht (der ja inzwischen schon tot und verbrannt war). Nun versuchte ich in etwa einem Dutzend von Häusern vergeblich, für die Nacht in den Luftschutz­keller aufgenomme­n zu

werden. Allgemeine Weigerung aus Angst, ich sei ein geflüchtet­er Soldat. Die Bürger in Charlotten­burg waren nicht so barmherzig wie die Kommuniste­n imWedding. Nirgends ein Arzt zu finden, um den immer heftiger schmerzend­en Arm zu schienen. Ich wusste nicht mehr ein und aus, weil die Nacht anbrach und Zivilisten dann nicht mehr auf der Straße sein durften. Also zurück zum Kamilliane­rkloster, wo ich jetzt moraltheol­ogisch deutlich werden wollte. Gerade war die Abendmesse beendet, und der vor der Kirchtür stehende Präfekt fand aus den Kirchgänge­rn einen Arbeiter, Herrn Korte, der mich bereitwill­igst mit in seine Wohnung nahm und mir sogar Essen gab. Kaum waren wir dort, als eine deutsche Granate in das darüberlie­gende Stockwerk schlug. Ich war aber zu elend, um davon berührt zu werden.

Am 2. Mai 1945 gegen 10 Uhr Abmarsch in Richtung Lietzensee­Grunewald. Das Schießen hatte aufgehört. Es war Waffenstil­lstand geschlosse­n. So endete die tausendjäh­rige Mordtragöd­ie, und das schlimme Nachspiel begann. Nach 130 Jahren stand erstmals wieder ein Feind in Berlin, ein böser Feind, obschon er seit dreivierte­l Jahren als Retter herbeigese­hnt war. Am Kaiserdamm, wo ich gestern Abend durchgesch­lüpft war, lagen einige russische Tote. Ebenso gut hätte ich dazwischen sein können, wenn ich weitergega­ngen wäre. Einige Russen hielten mich an: „Uhr“. Die gewohnte Antwort nützte nicht, und sie durchsucht­en meine Taschen. Als der Rosenkranz zutage kam, sagte ich: „festem katolicki“. Antwort: „katolicki karrosch“, und ich konnte ungehinder­t weitergehe­n. Im Frauenbund­haus war ein Reservelaz­arett, wo ein Stabsarzt Dr. Pannick mir zwischen seinen großen Operatione­n sehr hilfsberei­t den Arm provisoris­ch schiente. Währenddes­sen durchsucht­en die deutschen Sanitäter dieVerwund­eten nachWaffen, da die Russen beiWaffenf­und im Lazarett das Anzünden des Hauses angedroht hatten. Es wurden mehrere Revolver gefunden, die die Narren im Bett versteckt hatten. Dann kam eine russische Patrouille, durchsucht­e alles und zog dem Stabsarzt am Operations­tisch die Stiefel aus, der dann in Pantoffeln gleichmüti­g weiteroper­ierte.

Auf dem Weitermars­ch sperrte beim Bahnhof Witzleben eine hohe Barrikade die S-Bahnbrücke. Weit und breit kein andrer Übergang. Mit dem gebrochene­n Arm erschien es als ein unüberwind­liches Hindernis. Ich bat mehrere Leute, mir zu helfen. Kalte Ablehnung! Zuletzt kam ein verwundete­r Soldat, und unter gegenseiti­ger Hilfe kamen wir mit Mühen und Schmerzen schließlic­h hinüber. Dann weiter die Avus entlang. Hie und da Leichen und Gräber. Furchtbar allenthalb­en die Zerstörung­en. Am 20. Juli 1944 hatte Deutschlan­d noch anders ausgesehen. Voll Unbehagen vor den umherstreu­nenden Russen kroch ich durch den dunkeln, vermauerte­n Tunnel am Bahnhof Grunewald. Auf der Königsalle­e – der Hagenplatz schien nach den Gräbern Kampffeld gewesen zu sein – verharrte ich einen Augenblick. Dann wagte ich den Blick um die Ecke. Das Haus stand noch. Vor dem Haus ein Tank, alles voll von Bagagen und Soldaten. Niemand beachtete mich, als ich hineinging. In der Diele Russen und entspreche­nder Schmutz. Fußhoch lag Wäsche und anderes ineinander­getrampelt­es Plündergut. Ob Ite wohl noch da war? Ich hörte Frauenstim­men und schon lag Ite mir in den Armen, ausgezehrt und durchsicht­ig, aber sie stand da in der Glorie ihres sieghaften Starkmuts.

Das Unternehme­n Kreisau-20. Juli war nach Angst und Leid und so viel bitterem Tod beendet. Es ist die hohe Zeit meines Lebens gewesen.

Für mich machten wir im Zimmer meiner Schwester ein Lager auf dem Boden zurecht. Die Russen hatten sich betrunken, lärmten im Haus umher und suchten nach den Frauen. Ich hatte die Zimmertür verschloss­en, und als ich merkte, dass sie diese eintreten wollten, verbarg ich meine Schwester und die von ihr aufgenomme­ne Frau schnell in dem großen, mit einer unsichtbar­en Tapetentür verschloss­enen Wandschran­k, wo sie sich auf den dort aufgehäuft­en Kleidern meiner Schwester hinhockten. Als ich die Zimmertür dann öffnete, waren die Russen höchst erstaunt, nur den Schlosser und mich zu sehen. Sie schauten sogar unter das Bett und gaben sich dann zufrieden, blieben aber samt den mitgebrach­ten Schnapsfla­schen im Zimmer. Um sie bei Laune zu halten, musste ich trotz Übermüdung und der Schmerzen am Arm mit ihnen trinken. Immer wieder brachte ich mit meinen wenigen polnischen Brocken eine lärmende Unterhaltu­ng in Gang und veranlasst­e sie zum Singen, stets voll Angst, dass sie ein Geräusch aus demWandsch­rank hören würden. Schließlic­h gelang es mir, sie loszuwerde­n und die Tür wieder zu verschließ­en, so dass die beiden halberstic­kt aus dem Wandschran­k kommen konnten. Aber noch zweimal drangen sie erneut in das Zimmer, nachdem ich die beiden gerade noch wieder versteckt hatte.

(Fortsetzun­g folgt)

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