Rheinische Post Krefeld Kempen
Der Zweikampf des Jahrhunderts
Vor 200 Jahren wurde Herman Melville geboren. „Moby Dick“wurde sein größtes Buch, „Bartleby der Schreiber“sein modernstes.
NEWYORK Manchmal brauchtWeltliteratur nicht viele Worte. Und diesem Buch reichen genau drei: „Nennt mich Ismael.“Bevor es also richtig losgeht, ahnen bibelfeste Leser schon, mit wem sie es da zu tun haben. Mit jenem Ismael aus dem Buch Genesis, der als unmündiger Sohn verstoßen und in der Wüste ausgesetzt, der dort von einem Engel gerettet und zum Ahnherr der Nomaden wird. Ismael, der Einzelgänger, der Überlebende, der vom Schicksal Gezeichnete. Dieser Ismael also wird uns die monströse Wal-Geschichte von Moby Dick auftischen, die selbst erlebte und erlit
„Der Römer stürzte sich
in sein Schwert, ich begebe mich an Bord“
Ismael
Der Erzähler in „Moby Dick“
tene, die mit dem Untergang des Schiffes endet. Weil Ismael aber der Erzähler des Abenteuers ist (das ist nun mal die logische Folge), weiß der Leser schon gleich zu Beginn, dass er die Katastrophe überleben wird.
Ismael ist nicht Herman Melville, ist kein Spiegelbild des Autors von „Moby Dick“. Doch natürlich ist die Versuchung groß, in Ismael den unscharfen Doppelgänger eines umtriebigen Menschen zu sehen, dessen Leben in großen Teilen bitter und in sonnigen Momenten wenigstens abenteuerlich gewesen ist.
Schon die ersten Lebensjahre sind alles andere als günstig: Vor 200 Jahren wird er als drittes von acht Kindern einer Patrizierfamilie geboren. Das hört sich bequemer an, als es ist, denn die industrielle Revolution hat längst begonnen, keine Rücksicht auf elitäre Herkünfte zu nehmen. Als sein Vater früh stirbt, wird es ernst: Hermann Melville muss die Schule verlassen; er wird zu Verwandten nach New York geschickt; arbeitet als Gehilfe auf der Farm seines Onkels, dann im Pelzgeschäft seines Bruders. Wenn schon Überlebenskampf, dann auch richtig: Mit 17 wird er Schiffsjunge auf einem Frachter nach Liverpool, und schließlich heuert er auf einem Walfänger an, dessen Besatzung aus einem Haufen Desperados besteht, die nur ein Ziel verbindet: die Aussicht auf Geld. Der Römer stürze sich in sein Schwert,„ich begebe mich an Bord“, heißt es in „Moby Dick“. So wird es auch Herman Melville ergangen sein. Die Zustände an Bord sind furchtbar, und nach einem Jahr türmt der Matrose Melville, flieht von Bord auf eine Südsee-Insel, die angeblich von Kannibalen bewohnt wird, und gelangt auf abenteuerlichen Wegen wieder nach New York.
Das wäre schon ein guter Romanstoff. Doch auf dem Schiff lernt er eine noch bessere Story in einer kleinen Broschüre kennen. In der wird eine Begebenheit aus dem Jahr 1820 beschrieben: wie ein riesiger Pott-Wal namens„Mocha Dick“das Schiff „Essex“versenkte und die Besatzung bis auf wenige in den Tod riss.
Was für eine Geschichte! Und Herman Melville ist so überwältigt, dass er keine gescheite Form findet. Er ist nie ein Feinmechaniker unter den Autoren gewesen. Bis heute ist darum schwer zu sagen, was dieses mehrere hundert Seiten starke Buch von 1851 eigentlich ist: eine Tragödie, ein Abenteuerroman, ein Sachbuch oder mit den ellenlangen Erklärungen zum Walfang gar eine Enzyklopädie? Es ist alles, und auch darum ist „Moby Dick“nicht immer leicht lesbar – die Geschichte des grausamen Käptn Ahabs (und sofort hat man bei Nennung des Namens Gregory Peck vor Augen, der ihn in derVerfilmung von 1956 spielte). Ahab jagt den Wahl aus Rache, aus Besessenheit und vor blinder Wut und wird am Ende mit seinem Schiff von der Kreatur vernichtet.
Das ist ein Zweikampf des Jahrhunderts: Auf hoher See tobt sich die Eroberungswut des Menschen aus; und die ganze Besatzung wird nach und nach vom Wahn ihres Kapitäns infiziert. Dass man sich so weit aufs Meer hinauswagt, reicht nicht. Es gilt, die Kreatur zu bezwingen. Am Ende dieses Dramas ist es aber doch die Natur, die obsiegt. Der gejagte Wal als Triumphator.
„Moby Dick“ist ein Jahrhundertroman, ein Appell an die Menschheit, dem Fortschritts- und Eroberungswahn nicht blind zu folgen. Und zwei Romane stehen dem Buch dabei zur Seite. Es ist die Literatur des 19. Jahrhunderts, die sich dem Siegeszug der Moderne in den Weg stellt.
Denn auch Mary Shelleys „Frankenstein“(1818) ist ein Menetekel, ein Aufschrei gegen den Versuch des Menschen, den vermeintlichen Schöpfergott zu spielen. Alles hat seine Grenzen, und so reichen die Mittel der Naturwissenschaftler nicht aus, magische Bedrohungen aus derWelt zu schaffen. Davon erzählt Bram Stokers „Dracula“von 1897. „Moby Dick“, „Frankenstein“, „Dracula“– ihre gemeinsame Botschaft lautet zu Beginn der Moderne: Es wird nicht gelingen, die Welt technisch zu domestizieren. Und am deutlichsten erzählt das „Moby Dick“mit seiner Geschichte, die auf den unbekannten Weltmeeren spielt. Bei all den vielen biblischen Anspielungen nehmen die Ozeane die Gestalt einer Sintflut an. Ob Herman Melville diese Lesart im Schilde führte? Oder ahnte? Er hat es zumindest erlebt und erlitten. Große Autoren deuten nie die Welt,
sie sind Seismographen, die die Erschütterungen ihrer Zeit erspüren.
„Moby Dick“war Melvilles fünfter Roman und zu seinen Lebzeiten mit nur 3000 verkauften Exemplaren kein Bestseller. Erfolgreicher waren da seine ersten Veröffentlichungen wie „Typee“und „Omu“, mit denen er die Südsee-Neugier der Leser befriedigte. Manche seiner Bücher sind Phantasiemaschinen, so irrwitzig zum Teil, dass Zeitgenossen forderten, den Autor in Gewahrsam zu nehmen.
Sein modernstes Werk ist sein kleinstes geworden, „Bartleby der Schreiber“.Was für ein Mensch, was für ein Widerständler und Neinsager. Der strebsame Kanzleischreiber Bartleby weigert sich plötzlich, seine Aufgaben zu tun. An ihm prallt die Welt mit ihren vielen Anliegen ab. Ein Antiheld, dessen Arbeitsverweigerung zur Lebensverweigerung mutiert. Sein berühmterWahlspruch „I would prefer not to“, Ich möchte lieber nicht, ist das Sandkorn im Getriebe einer sich rasanter drehendenWelt. Ein Sandkorn ist nicht viel. Aber manchmal braucht Weltliteratur nicht mehr.