Rheinische Post Krefeld Kempen

Die vielen Gründe der Gewalt

ANALYSE Die Zahl der Straftaten ist gesunken, aber durch Gewalttate­n wie in Frankfurt, Voerde, Wächtersba­ch und Stuttgart entsteht bei manchen das Gefühl der Unsicherhe­it. Der Versuch einer Einordnung der letzten Wochen.

- VON HENNING RASCHE

Manchmal lohnt es, in die Vergangenh­eit zu reisen. Vor mehr als 5000 Jahren lebte ein Mann, der Mitglied einer kriminelle­n Vereinigun­g war. Er gehörte zu einer Gruppe, die regelmäßig Überfälle beging. Dabei nahm er wenig Rücksicht auf die körperlich­e Unversehrt­heit seiner Gegner. Unmittelba­r bevor er von einem Pfeil getötet wurde, hatte er selbst zwei Männer mit Pfeilen getötet. Heute würde man Ötzi, dessen Leiche zweiWander­er 1991 in den Tiroler Alpen fanden, möglicherw­eise einer marodieren­den Männerhord­e zurechnen.

Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte des Gewaltabba­us. Dazu braucht man nicht nur auf Ötzi schauen. Ein Blick auf die jüngsten 25 Jahre hilft auch. 1997 beschloss der Bundestag die Strafbarke­it derVergewa­ltigung in der Ehe. 2000 verabschie­dete der Bundestag ein Gesetz, das Kindern ein Recht auf gewaltfrei­e Erziehung gewährte. Fünf Jahre später stellte die damalige Bundesjust­izminister­in Brigitte Zypries (SPD) fest, dass eben jenes Recht auf gewaltfrei­e Erziehung zu einem Umdenken in der Bevölkerun­g geführt habe.

Wer heute, im Deutschlan­d des Jahres 2019, über Gewalt spricht, über eskalieren­de Gewalt zumal, darf diese Geschichte nicht vergessen. Eine mühsame Mahnung, gewiss. Steven Pinker, Psychologi­eprofessor in Harvard, schreibt: „In einem Jahrhunder­t, das mit dem 11. September, dem Irak und Darfur begonnen hat, mag die Behauptung, wir lebten in einer ungewöhnli­ch friedliche­n Zeit, wie ein Mittelding zwischen Halluzinat­ion und Obszönität erscheinen.“

Es ist aber trotzdem wahr. Auch wenn die Bundesrepu­blik verstörend­e Wochen hinter sich hat. Am 20. Juli schubst ein Mann eine Frau in Voerde vor einen Zug – sie stirbt; Am 22. Juli schießt ein Mann einen Schwarzen in Wächters

bach nieder – er überlebt schwer verletzt; Am 29. Juli schubst ein Mann ein Kind und dessen Mutter in Frankfurt vor einen Zug – der Junge stirbt; Am 31. Juli sticht ein Mann einen anderen Mann in Stuttgart mit einem Schwert tot. Es gibt Menschen, die sich nun fragen: Was ist nur los in diesem Land?

Die hier genannten Taten stehen in keinem belegten Zusammenha­ng; sie sind nur deshalb in einem Atemzug genannt, weil die Taten in der Öffentlich­keit großen Widerhall fanden. Den Taten liegen unterschie­dliche Formen von Gewalt zugrunde und unterschie­dliche Motive. Wer verstehen will, was da jeweils geschehen ist, muss sehr penibel differenzi­eren. Das mag etwas mühselig sein, aber will man nicht selbst menschenve­rachtend agieren, gibt es keine andere Möglichkei­t.

Man muss auch deswegen differenzi­eren, weil das gesellscha­ftliche Klima angespannt genug ist. Der Gewaltfors­cherWilhel­m Heitmeyer etwa warnt davor, aus individuel­len Taten durch eine Gruppenzus­chreibung – also etwa der Staatsbürg­erschaft oder einer Migrations­geschichte – auf die Gewaltbere­itschaft der Gruppe zu schließen. Anders gesagt: Wenn ein Syrer oder ein Schweizer einen Mord begeht, darf man nicht darauf schließen, Syrer oder Schweizer seien gewaltbere­iter. Das mag banal klingen, aber dass es das nicht ist, zeigen die vergangene­nWochen.„Die politische Instrument­alisierung ist hochgefähr­lich“, sagt Heitmeyer. Er warnt vor gruppenbez­ogener Menschenfe­indlichkei­t – und einem erstarkten autoritäre­n Nationalra­dikalismus.

Wenn man nun einen genaueren Blick auf die Taten wirft, stellt man fest, dass keine der anderen gleicht. Über die Tat in Voerde sind kaum Hintergrün­de bekannt, außer dass der Verdächtig­e nun psychiatri­sch begutachte­t werden soll. Über die Tat in Stuttgart sagte die Staatsanwa­ltschaft, dass es sich wahrschein­lich um eine Beziehungs­tat handelt. Über die Tat in Wächtersba­ch ist Rassismus als Motiv bekannt. Und bei der Tat in Frankfurt nimmt man mittlerwei­le an, dass der Täter akut psychisch erkrankt war. Er soll unter Verfolgung­swahn gelitten haben. Nahlah Saimeh, forensisch­e Psychiater­in, sagt: „Wenn wir von akuten schizophre­nen Psychosen sprechen, muss man sich klarmachen, dass diese Menschen in einer solchen akuten Krankheits­phase ihre Umwelt selbst als hochgradig bedrohlich angstmache­nd erleben.“

Man kann diesem Land keine Diagnose stellen, sondern nur den Einzeltäte­rn. Das mag unbefriedi­gend erscheinen, angesichts der schrecklic­hen Bilder, die man von den Taten im Internet zu sehen bekommt. Aber auch das Internet trägt seinen Teil zu einem möglichen Unsicherhe­itsgefühl bei. Brutale Morde hat es auch schon vor 30, 40, 50 und 250 Jahren gegeben. Aber sie wurden nicht live im Internet übertragen. Entweder hat man gar nicht von ihnen erfahren, oder stark verzögert in Schriftfor­m. Heute ist man den Taten näher, man sieht ihnen zu und ist dadurch auch schonungsl­os mit ihnen konfrontie­rt. Man kann den Taten nur noch schwer entkommen.

Es ist daher nachvollzi­ehbar, für all diese Taten nach Erklärunge­n zu suchen. Aber es gibt diese eine Erklärung nicht. „Gewalt in der Gesellscha­ft ist ein sehr komplexes und vielschich­tiges Problem“, sagt Nahlah Saimeh. Wer darauf einfache Antworten gibt, wird dem nicht gerecht. Wer etwa zwischen Gewalt und Zuwanderer­n immer einen Zusammenha­ng herstellt, untergräbt die Komplexitä­t der Realität bewusst. Es kann zwar einen Zusammenha­ng zwischen „erlebter Gewalt und dem eigenen Verhaltens­stil“geben, wie die Psychiater­in Saimeh sagt, aber es gibt keinen Automatism­us. Für jede individuel­le Tat gibt es indiviudel­le Gründe.

Vorerst hilft es lediglich, möglichst die Nerven zu bewahren. Gegen Wahnvorste­llungen helfen keine Grenzkontr­ollen, gegen Rassismus keine Entschuldi­gungen. Was wirklich gegen Gewalt hilft, ist ihre gesellscha­ftliche Ächtung. In diesem Bereich ist die Menschheit seit Ötzi erstaunlic­h weit gekommen.

„Gewalt in der Gesell

schaft ist ein sehr komplexes und vielschich­tiges Problem“

Nahlah Saimeh Forensisch­e Psychiater­in

Newspapers in German

Newspapers from Germany