Rheinische Post Krefeld Kempen
Grasgespenst und Röhrenspinne
Auf der Kyritz-Ruppiner Heide wurde bis vor 30 Jahren scharf geschossen. Heute begeistert sie auch dank der Sielmann-Stiftung als Naturlandschaft.
Auf Knien oder in der Hocke, auf dem Po oder sogar auf dem Bauch – so erkundet Jörg Müller die Heide. Denn nur so kommt er nah ran an die Objekte seiner Begierde: Schmetterlinge und Heuschrecken, Käfer und Wanzen, Ameisen und Spinnen,Wildbienen undWespen. Ein Universum winziger Krabbler, Kriecher, Kletterer, Summer, Brummer, Hüpfer, Springer, Läufer, Flieger und Baumeister, die alle miteinander existieren und voneinander abhängen. Die sich fressen und gefressen werden – so wie die Natur es ihnen bestimmt. Und Natur heißt in diesem Fall Besenheide oder schlicht Heidekraut. Hier die mit Abstand wichtigste Pflanze, die folglich das gesamte Ökosystem prägt.
Das Revier des Biologen von der Heinz Sielmann Stiftung ist die Kyritz-Ruppiner Heide im Norden Brandenburgs. Genauer gesagt, jene 4000 Hektar des ehemaligen sowjetischen Truppenübungsplatzes, den die Stiftung unter ihre Fittiche genommen und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Wo jahrzehntelang scharf geschossen wurde, mussten dazu Wegstrecken aufwändig von Munition befreit, Wanderwege geschaffen und Rastplätze angelegt werden. Mit Erfolg: Seit 2016 dürfen sich Wanderer, Radler und Reiter an der Landschaft erfreuen oder Besucher bequem im Zweispänner-Kremser durch die Heide kutschieren lassen. Ein Hochgenuss speziell in August und September, wenn die Blüte riesige Flächen rosarot färbt.
Meist ist Jörg Müller hier ganz allein unterwegs. Er erforscht, wie Naturschutz und Landschaftspflege zusammenwirken können, um diese größte deutsche Heidelandschaft zu bewahren und zu entwickeln. Zu seinen Aufgaben gehört das Erfassen der spezifischen Flora und Fauna – allein an Moosen hat der Experte bisher 98 verschiedene Arten entdeckt. Jüngst zum Beispiel erst die Blauende Igelhaube. „Dieses Lebermoos kommt eigentlich eher in wärmeren Regionen Europas vor“, erklärt er und sieht diesen Erstnachweis für Brandenburg als Indiz für veränderte Lebensbedingungen durch den Klimawandel. Und ganz nebenbei genießt er den tiefen Frieden, der weder von Straßen- oder Fluglärm gestört wird, noch von Traktoren oder Kettensägen. Die Heide als unverfälschter akustischer Raum, in dem Zikaden zirpen, Ziegenmelker singen, Neuntöter rufen, Steinschmätzer zwitschern und Heidelerchen tirilieren.
Manchmal nimmt er auch Gäste mit auf seine Streifzüge. Zum Beispiel zum Heidefest in Pfalzheim. Immer Mitte August zur schönsten Blütezeit strömen Besucher in Scharen in das winzige Dorf am Südrand der Heide. Start- und Treffpunkt ist der Sielmann-Hügel, die einzig nennenswerte Erhebung in der Gegend mit fantastischem Panoramablick über den ausgebreiteten Heideteppich zu Füßen.
Und dann beginnt sie auch schon – die große Show der kleinen Stars. Mit ganz und gar erstaunlichen Nummern. Die Ouvertüre liefert ein Argus-Bläuling, der seine hauchzarten Flügelchen im Gegenlicht fotogen spreizt, bevor er sich an einem Bläulings-Frollein zu schaffen macht. Ein paar Zentimeter daneben muss man schon genauer hinschauen; dort streitet sich eine hellgrüne Sichelschrecke mit einer Nordischen Fruchtwanze um den Platz im Rampenlicht. Eine Etage tiefer turnt eine Heideradspinne wie ein Seiltänzer auf ihrem kunstvollen Gespinst hin und her, während daneben das Grasgespenst einfach so abhängt. „Das entspricht seinem Wesen“, erklärt Jörg Müller, „denn wenn diese dünne Glasflügelwanze sich nicht bewegt, ähnelt sie frappierend einem trockenen Grashalm und ist bestens getarnt.“
Wir lernen die Raubwanze kennen, die auch vor weit größeren Beutetieren nicht zurückschreckt. Wir betrachten die seltene Goldaugenspringspinne im Lupenglas, die von kleineren Kiefern aus Jagd auf potentielles Futter macht. Wir treffen mit dem Warzenbeißer eines der größten Heide-Insekten, das seinen Namen wohl wirklich seinem medizinischen Nutzen verdankt.„Diese Schrecke wurde tatsächlich eingesetzt in der Volksmedizin, um Warzen abzubeißen,Wundränder gründlich zu säubern oder bei anderen Hautkrankheiten heilend zu helfen.“
Unglaubliches weiß Müller aber noch viel mehr zu berichten. Die Kugelfliege zum Beispiel lebt parasitär. Wie Piraten entern ihre Larven fremde Spinnen, dringen in sie ein, fressen die Wirtstiere nach und nach von innen auf und überwintern dann in der leeren Hülle. Der Sandlaufkäfer wiederum ist ein Mobilitätswunder, der in rasantem Sprint Insekten jagt, mit den Kieferzangen greift und dann aussaugt. Oder die Ameisenwespe, die man in Texas Cow-Killer nennt und bei peruanischen Indios „Ameise, die einen zum Schreien bringt“. Mit gutem Grund und voller Ehrfurcht: Die Stiche sind äußerst schmerzhaft.
Wie in jeder guten Show kommt der Höhepunkt zum Schluss. Jörg Müller möchte unbedingt eine Rote Röhrenspinne präsentieren, nicht nur eine der schönsten und markantesten Spinnen Europas, sondern auch besonders charakteristisch für die Heide. Doch so einfach ist das nicht. Das seltene und leuchtend rote Tier lebt in Erdröhren, aus denen es seine Opfer attackiert und die es mit einem filzigen Netz bedeckt.
Und so braucht selbst der Profi eine geraume Zeit, um eine solche Röhre zu finden und darauf zu hoffen, dass jemand drin wohnt. Doch wir haben Glück: Nach ein paar Minuten tut uns ein Männchen den Gefallen. Kommt raus und haut auch nicht gleich wieder ab. Ein fantastischer Anblick. Und ein unvergessliches Erlebnis.
Dass sich ganz zum Schluss dann sogar noch ein Wiedehopf die Ehre gibt und wenige Meter vor der Gruppe auf dem Sandweg herumhopst, sei nur noch am Rande erwähnt. Weil es so schön ins ganze tolle Erlebnis passt.