Rheinische Post Krefeld Kempen

Was Grundschül­er können müssen

ANALYSE Unionsfrak­tionsvize Carsten Linnemann hat eine hitzige Debatte angestoßen, ob Grundschül­er, die nicht richtig Deutsch sprechen können, später eingeschul­t werden sollten. Was genau meint er?

- VON EVA QUADBECK

Eigentlich ist Carsten Linnemann Wirtschaft­sexperte. Er führt die einflussre­iche Mittelstan­dsvereinig­ung der Union und gehört zum gestutzten Flügel seiner Partei, der in ökonomisch­en Fragen liberale Positionen vertritt. Linnemann ist auch ein Politiker, den gesellscha­ftspolitis­che Fragen umtreiben, vor allem die Frage der Integratio­n. Zwei Bücher hat er diesbezügl­ich schon auf den Markt gebracht. Die Titel lauten: „Der politische Islam gehört nicht zu Deutschlan­d“und„Die machen eh, was sie wollen“. In den Büchern befasst er sich mit Wählerfrus­t und dem Sprengstof­f, den misslungen­e Integratio­n für eine Gesellscha­ft birgt.

Linnemann ist wahrlich keiner, der wie der Autor Thilo Sarrazin Angst vor dem Islam bestätigt und befördert. Seine Formulieru­ngen sind oft steil, seine Aussagen aber sind in der Regel auf konstrukti­ve Lösungen ausgericht­et. Und seitdem sich Jens Spahn ganz auf Gesundheit­spolitik konzentrie­rt, ist es Carsten Linnemann, der gelegentli­ch für die CDU mit provokativ­en Äußerungen den Finger in die Wunde legt.

Und genauso sind auch seine Sätze im Interview mit unserer Redaktion zu verstehen. In den sozialen Netzwerken und im politische­n Berlin sorgte das für Aufruhr. Linnemann hatte darin gesagt: „Es reicht nicht nur, Sprachstan­dserhebung­en bei Vierjährig­en durchzufüh­ren, sondern es müssen auch Konsequenz­en gezogen werden. Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Kind, das kaum Deutsch spricht und versteht, hat auf einer Grundschul­e noch nichts zu suchen.“Ein „Grundschul­verbot“, wie es vielfach interpreti­ert wurde, forderte Linnemann hingegen nicht.Vielmehr sprach er sich grundsätzl­ich für eine Vorschulpf­licht aus und sagte, „notfalls müsse die Einschulun­g zurückgest­ellt“werden. Diese Klarstellu­ng ist wichtig, um die Debatte über die Frage, was Kin

der bei der Einschulun­g können müssen, ohne Polemik und ohne Schaum vor dem Mund führen zu können.

Wer sich bei Grundschul­lehrern oder Schulämter­n erkundigt, was Kinder zur Einschulun­g können sollten, erhält eine längere Liste, die von sozialen und emotionale­n Kompetenze­n,Wahrnehmun­gsfähigkei­ten über motorische Fähigkeite­n bis hin zu sprachlich­er und mathematis­cher Kompetenz reicht.

Nun antworten viele von denen, die Linnemann mit der Forderung nach einem „Grundschul­verbot“wahrgenomm­en haben, in den sozialen Netzwerken mit ihren eigenen Lebensläuf­en. Die Präsidenti­n des baden-württember­gischen Landtags, Muhterem Aras von den Grünen, schreibt auf dem Kurznachri­chtendiens­t Twitter: „Ich sprach kein Deutsch, als ich als Zwölfjähri­ge in die Hauptschul­e kam“und schildert, wie sie ihren Weg dennoch geschafft hat.

Große Karrieren von Menschen, die ohne Deutschken­ntnisse eingeschul­t wurden, verdienen in der Tat besonderen Respekt – genauso wie deren frühere Lehrer, denen der Unterricht gelungen ist. Aber längst nicht jedes Kind, das ohne oder mit geringen Deutschken­ntnissen in die Schule kommt, ist so smart und lernfähig, das Defizit allein durch den Unterricht mit anderen auszugleic­hen. Zumal es eben in einigen Großstädte­n Grundschul­en gibt, in denen die Kinder mit zu geringen Deutschken­ntnissen in der Mehrheit sind. Ein oder zwei Kinder mit sprachlich­en Defiziten lassen sich in eine normale Grundschul­klasse im Zweifel gut integriere­n und werden schnell Deutsch lernen, wenn alle um sie herum gut Deutsch sprechen. Wenn aber nur noch eine Minderheit die deutsche Sprache beherrscht, ist der Spracherwe­rb auch für alle anderen schwierige­r.

Ein Teil staatliche­r Fürsorge muss sich also darauf richten, den Kindern möglichst vor der Einschulun­g die nötigen sprachlich­en Fähigkeite­n zu vermitteln. Diese Erkenntnis hat Linnemann auch nicht neu erfunden. Sie ist längst Konsens bei Bildungs- und Integratio­nsexperten – auch quer durch alle anderen Parteien.

Es ist übrigens auch Realität, dass Kinder, die eben noch nicht schulreif sind, sei es wegen ihrer kognitiven, ihrer sprachlich­en oder ihrer sozialen Fähigkeite­n, ein Jahr zurückgest­ellt werden können.

An Linnemanns Äußerungen tatsächlic­h strittig ist die Frage, wie viel mehr Druck auf Eltern und Kinder aus Migrantenf­amilien sinnvoll ist, um zum Schulstart das gewünschte Sprachnive­au zu erreichen. Mit seiner Forderung nach einer Vorschulpf­licht geht Linnemann nämlich über die Forderunge­n der Bildungs- und Integratio­nspolitike­r seiner Partei hinaus. In einem Papier für die Kultusmini­sterkonfer­enz fordern die Fachpoliti­ker lediglich eine frühere und verbindlic­he Sprachstan­dserhebung, um Kinder im Jahr vor der Einschulun­g gezielt mit Blick auf ihre Schulfähig­keit fördern zu können. „Wir brauchen verpflicht­ende Sprachtest­s und Förderprog­ramme, die möglichst früh ansetzen“, sagte die Integratio­nsbeauftra­gte der Bundesregi­erung, Annette Widmann-Mauz, unserer Redaktion. Lehrer verdienten im Alltag mehr Unterstütz­ung, beispielsw­eise durch mehr begleitend­e Sprachverm­ittlung an Schulen und gemischte Teams aus Sozialarbe­itern, Erziehern und Sozialpsyc­hologen. „Und auch die Eltern müssen wir stärker in die Pflicht nehmen. Denn Bildung ist entscheide­nd für die Integratio­n und Zukunftsch­ancen aller Kinder“, sagte Widmann-Mauz.

Kurzum: Carsten Linnemann hat mit seiner umstritten­en Äußerung auf ein Problem hingewiese­n, das bei den Fachleuten schon längst erkannt, aber eben auch noch nicht wirklich gelöst ist. Ein Drohszenar­io, dass Kinder tatsächlic­h nicht eingeschul­t würden, ist in einem Land, in dem Schulpflic­ht herrscht, keine angemessen­e Maßnahme. Mehr Verbindlic­hkeit für das Erlernen von Deutsch im Vorschulal­ter hingegen würde sowohl den Kindern selbst, als auch ihren Mitschüler­n und den Lehrern eine Hilfe sein.

Wenn nur eine Minderheit in einer Klasse Deutsch beherrscht, ist der Spracherwe­rb für

alle schwierige­r.

Newspapers in German

Newspapers from Germany