Rheinische Post Krefeld Kempen
Hören Sie bitte auf zu telefonieren
MEINUNG Das Schlimme an Bahnreisen sind nicht die Verspätungen und auch nicht die Preise – es sind die Mitreisenden, genauer: die telefonierenden Mitreisenden. Ein Plädoyer für Benehmen im öffentlichen Raum.
Wie alle wissen, gehört die Deutsche Bahn zu den am meisten kritisierten und verspotteten Unternehmen Deutschlands. Das hat seine guten Gründe. Unzuverlässig, unflexibel, unmodern und gastronomisch fernab jeglicher Ambition oder – seien wir ehrlich – jeglichen Selbstrespekts. Doch im Zusammenhang mit öffentlichen Verkehrsmitteln gibt es eine Dimension des Grauens, für die die Bahn nicht verantwortlich ist, und die das Reisen zu einem wahren Höllentrip werden lässt: Mitreisende. Genauer: telefonierende Mitreisende.
Es wird vermutlich für immer ein Rätsel bleiben, warum Menschen denken, es sei angebracht sich über ihre intimsten, persönlichsten oder auch einfach langweiligsten Gedanken auszutauschen, wenn sie in Bussen, Bahnen und Zügen sitzen. Liegt es an der Anonymität? Nach dem Motto: Die Frau in der Zweier-Reihe vor mir sehe ich eh nie wieder, was macht es schon, wenn sie weiß, dass ich schwanger von meinem Schwager bin?
Liegt es an der räumlichen Form, der Gliederung einer Bahn in Sitze? Kann es sein, dass die Sitze den Menschen suggerieren, sie hätten darin ihre eigenen kleinen Sphären, aus denen nichts herausdringt? In den Nachbarsitz platziert sich zwar schlechterdings ein anderer Mensch, aber das vollendet lediglich die Abkapselung in alle vier Himmelsrichtungen. Kann es sein, dass manch einer sich deswegen wie in seinem privaten kleinen Stübchen vorkommt, in dem er endlich mal in Ruhe (welch Ironie!) telefonieren kann? Wenige Minuten zuvor musste er sich auf dem Bahnsteig noch einen öffentlichen Raum mit anderen Menschen teilen, aber jetzt sitzt er in seiner eigenen kleinen Kammer?
Welch tragischer Fehlschluss, wenn dem so wäre! Denn – unnötig zu erwähnen – vor, hinter und neben ihm sitzen Menschen. Menschen mit Ohren. Und so schön es ist, dass wir in der Lage sind,
unsere Augen schließen zu können, unsere Ohren schließen können wir nicht. Und das sollten wir auch nicht müssen. Hören zu können, ist durchaus wichtig. Hören, was der Bahnsprecher über die Lautsprecher krakeelt (Verstehen ist wieder eine andere Sache), hören, wenn der Schaffner durch den Wagen läuft und die Bahntickets sehen will, hören, wenn jemand ruft „Hilfe, ich ersticke“. Unsere Sinne geben uns Sicherheit und verbinden uns mit der Außenwelt. Besonders wenn die Außenwelt nicht das heimische Wohnzimmer, sondern ein öffentlicher Raum ist, sind unsere Sinne der einzige Grund, weswegen wir uns überhaupt auf das Abenteuer namens Bahnfahren einlassen.
Und dieses ohnehin schon risikoreiche Unterfangen entwickelt sich zur Tortur, wenn Tessa aus Pforzheim einem stundenlang in den Nacken schwadroniert.
Dabei gibt es so viel Schöneres zu tun: Bahnfahrten könnten zu einem unserer letzten Refugien werden, in denen wir das Tempo herausnehmen, nichts erledigen, nichts tippen, nichts posten und nichts reden – einfach mal die Verbindung zu anderen kappen, bei sich sein, allerhöchstens etwas lesen, vielleicht ein Kreuzworträtsel lösen und einfach mal nur sein.
Aber nein, stattdessen herrscht die Hitparade der Belanglosigkeiten. Fieser noch als das Telefonieren ist dabei das Nicht-Telefonieren-Können: Wenn die Dauerbeschallung aus Tessas Privatleben in regelmäßigen Abständen unterbrochen wird durch „Lisa? Lisa? Hörst du mich? Ich glaube der Empfang ist weg… ach Mist!“. Die zarte Hoffnung, die in einem keimt, dass Tessa die Sache mit dem Telefonieren aufgibt, wird jäh zertreten, wenn Tessa feierlich verkündet: „Ah, jetzt höre ich dich wieder. Diese blöde Deutsche Bahn.“
Warum nur, fragt man sich, denkt sie, es sei in Ordnung, auf so engem Raum das Recht der anderen auf akustische Unversehrtheit zu verletzen? Warum ist es ihr nicht unangenehm? Und so kommt man nicht umhin, bei jeder Bahnfahrt an den großartigen JeanPaul Sartre und seine schlichte wie geniale Feststellung zu denken: Die Hölle, das sind die anderen.
Man merkt wie die konservative Ader sich in einem aufbäumt und Bahn bricht: Nein, es ist nicht in Ordnung in geschlossenen Räumen laut zu telefonieren. Genauso wie es nicht in Ordnung ist, riechende Lebensmittel zu essen, oder im Vierer-Sitz Bier trinkend lauthals über den anstehenden Junggesellenabschied zu johlen.
Dabei gibt es in einigen Zügen sogenannte Ruhebereiche„für Fahrgäste mit Wunsch nach Ruhe und Entspannung“. In diesem Bereich sind laut Deutscher Bahn Klingeltöne, lautes Musikhören (auch via Kopfhörer) und Handytelefonate nicht erwünscht. Das Problem: Bei weitem nicht jeder Zug hat einen solchen Bereich. Und wenn die Plätze bereits ausgebucht sind, ist man auch gefangen in den Händen der Telefonier-Guerilla.
Ein rigoroses Verbot mag schwer durchzusetzen sein. Wie wäre es also mit einer höflichen aber deutlichen Ansprache: „Liebe Fahrgäste, bitte verzichten Sie während der Fahrt auf Telefongespräche, da Sie davon ausgehen können, dass Ihre Fahrgäste an Ihrem Privatleben nicht interessiert sind.“Im Falle von Zuwiderhandlung hätte man dann zumindest einen Referenzpunkt. Man könnte Tessa aus Pforzheim sagen, dass es nun mal so auf dem Schild stehe. Dann käme man sich – angenommen man ist 29 Jahre alt und hält sich im Großen und Ganzen eigentlich für recht liberal – auch nicht vor wie Fräulein Rottenmeier. Man würde sich nur an Regeln halten. Regeln übrigens, die man doch eigentlich wirklich nicht aufschreiben müsste. Es gebietet doch ein Funken Anstand und Benehmen, andere Menschen nicht mit der eigenen Person zu überstrapazieren. Weder durch Telefonate, noch durch Duft.
Aber eine Abhandlung darüber zu schreiben, welche Speisen und Getränke in öffentlichen Verkehrsmitteln verboten gehören, das ist wieder ein ganz eigenes, nicht minder dringendes Thema.
„Die Hölle, das sind die anderen“
Jean-Paul Sartre
Philosoph