Rheinische Post Krefeld Kempen

Doc Otto: Ein Hundertjäh­riger erzählt

Er war 25 Jahre lang Chefarzt der Chirurgie im Maria Hilf, 35 Jahre lang engagierte er sich als „Doc Otto“für die Lepra- und Tuberkulos­ekranken, die Ärmsten der Armen, auf den Philippine­n. Heute wird Otto Paulitsche­k 100 Jahre alt. Ein Blick auf ein beweg

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100 Jahre: Was macht die Zahl mit Ihnen?

PAULITSCHE­K Ich kann sie gar nicht richtig greifen. Einerseits bin ich dankbar, anderersei­ts ist es aufregend und anstrengen­d. Nicht nur wegen der Feier. So ein Jubiläum ist auch Anlass, das Leben in eine chronologi­sche Reihenfolg­e zu bringen. Mein Leben ist dreigeteil­t: die Zeit als Soldat und im Krieg, die Jahre von 1959 bis 1984 als Chefarzt der chirurgisc­hen Abteilung im Maria Hilf und seit 1985 meine Arbeit im Einsatz der German Doctors, früher Ärzte für die Dritte Welt, auf den Philippine­n.

Gibt es im Rückblick betrachtet eine Gewichtung der Eindrücke?

PAULITSCHE­K Seltsamerw­eise tritt die Zeit als Chefarzt da ganz in den Hintergrun­d. Aber die Erinnerung­en an die Soldatenze­it werden wieder sehr lebendig. Nachts verfolgen mich heute wieder diese Bilder. Ich habe den Holocaust erlebt 1941 in Nowograd-Wolinsk.

Lösen diese Bilder heute mit dem Abstand der Zeit und weil Sie als Arzt im Krankenhau­s und bei der Hilfe für die Lepra- und Tuberkulos­ekranken, die Ärmsten der Armen, auf den Philippine­n so viel Elend und Tod gesehen haben, andere Empfindung­en in Ihnen aus als damals, als Sie ein junger Soldat waren?

PAULITSCHE­K An den Tod gewöhnt man sich nicht. Vor allem denke ich aber, wir, die wir das gesehen haben, wir hätten etwas sagen müssen, Widerstand leisten. Sie hätten uns nicht alle töten können. Das Erleben des Holocaust, wo Juden mit Kopfschuss einfach hingericht­et und in einen Graben geworfen wurden, hat für mich vieles verändert. Darunter war eine Mutter, die ihr Baby in den Armen hielt. – Ich bin im niederschl­esischen Dorf Tscherbene­y geboren, heute polnisch Czermna. Ich habe die Missionssc­hule Christus Rex, 30 Kilometer von zu Hause besucht. Da habe ich früh Disziplin gelernt und mit Heimweh umzugehen. Ich durfte nur einmal im Jahr nach Hause. Nach dem Abitur 1939 wurde ich zum Reichsarbe­itsdienst herangezog­en und mit Kriegsbegi­nn von der Wehrmacht übernommen. Parallel zum Militärdie­nst habe ich in Breslau Medizin studiert. Mit 20 habe ich mich noch fürs Soldatsein begeistert. Ich habe gedacht, solange ich frei handeln kann, mache ich nicht mit. Dann habe ich das Grauen gesehen. Ich habe als Feldarzt Mörder behandelt.

Können Sie sich an den ersten Toten erinnern, den Sie gesehen haben?

PAULITSCHE­K Ja, das war ein Kamerad. Wir sollten Heckenschü­tzen ausmachen und sind durch einen Graben gekrochen. Ich habe ihn noch ermahnt, vorsichtig zu sein. Er hat sich etwas aufgericht­et und wurde in den Kopf geschossen.

Sie sind bekennende­r Katholik. Haben Sie in solchen Situatione­n an Gott gezweifelt?

PAULITSCHE­K: Mich hat ein Satz eines Priesters getragen: „Herr lass nicht zu, dass sie unserer Jugend den Glauben aus den Herzen schießen.“Das ist nicht passiert. Aber ich finde, dass die Kirche hätte Position beziehen müssen. Da ist vieles verschwieg­en worden. Es gab keinen Widerstand.

Sie haben sich aber mehrfach widersetzt und Leben gerettet.

PAULITSCHE­K: Das weiß ich nicht. Ich habe versucht, einen Juden vor der Erschießun­g zu retten, das ist mir nicht gelungen. Bei einem Heckenschü­tzeneinsat­z in Sokal habe ich in einem Haus einen Berg Federbette­n gesehen, der mir seltsam vorkam. Ich habe nachgesehn und darunter einen minderjähr­igen Jungen entdeckt. Er hatte direkt neben sich eine Handgranat­e liegen. Die habe ich weggenomme­n und den Jungen laufen lassen. Was mit ihm danach passiert ist, weiß ich nicht.

Waren die Kriegserle­bnisse die prägendste­n in Ihrem Leben?

PAULITSCHE­K: Es waren die schlimmste­n. Aber am tiefsten eingeprägt hat sich mir das Gefühl von Heimatlosi­gkeit, als ich nicht zurück konnte, weil unser Dorf von Polen besetzt war. Im Februar 1945 musste unsere Studentenk­ompanie kurz vor der vollständi­gen Einkreisun­g Breslaus durch die Russen flüchten – auf Fahrrädern. Zunächst nach Göttingen, dann kam der Marschbefe­hl nach Magdeburg. In Goslar wurde ich von den amerikanis­chen Truppen überrollt und im Reservelaz­arett Goethe-Schule als Assistenza­rzt eingesetzt. Die Gesetzgebu­ng war derWehrmac­ht überlassen. Ich habe gegen die vorzeitige Entlassung eines Patienten öffentlich opponiert. Deshalb wurde ich vom deutschen Militärger­icht wegen Meuterei ins scharfbewa­chte SS-Lazarett Domkaserne in Goslar strafverse­tzt. Ich kam in britische Gefangensc­haft. Als ich im Oktober 1945 daraus entlassen wurde, war ich Heimatvert­riebener. Ich hatte nur, was ich bei der Flucht mit dem Fahrrad auf dem Gepäckträg­er mitgenomme­n hatte: einen Karton mit Büchern. Wochen später habe ich mich an der Grenze heimlich mit meiner Schwester getroffen, die inzwischen in der Tschechosl­owakei lebte. Sie hat mir ein paar Zivilklamo­tten gegeben, die sie aus unserem Elternhaus geschmugge­lt hatte. Den kleinen Koffer habe ich noch heute. Darin bewahre ich unsere Krippenfig­uren auf.

Was ist Ihre Heimat heute?

PAULITSCHE­K: Tschereben­ey ist es nicht mehr. Ich bin zwar später mehrfach mit meiner Familie hingefahre­n. Aber heute lebt da kein Deutscher mehr, niemand, den ich kenne. Das Haus ist umgebaut. Da gehöre ich nicht mehr hin. Aber es gibt Erinnerung­en. Den Brunnen im Garten habe ich einbauen lassen, weil ich früher von meinem Zimmer aus einen Bach plätschern hörte. Und es gibt diesen alten Senftopf. Eigentlich ist es ein wertloser Eimer. Aber er stammt aus meinem Elternhaus. Als ich wieder hindurfte, war er das Einzige, was noch da war. Ich wollte ihn mitnehmen, aber an der Grenze ist er einkassier­t worden. Er war von vor 1939 und galt deshalb als Kulturgut, das nicht ausgeführt werden durfte. Nach jahrelange­nVerhandlu­ngen mit dem Zoll habe ich den Senfeimer bekommen. Heute sind darin Blumen gepflanzt.

Sie haben den Tod so oft gesehen. Wann haben Sie sich das erste Mal Gedanken über Ihre eigene Sterblichk­eit gemacht?

PAULITSCHE­K: Solche Gedanken darf man nicht zulassen, die muss man weit wegschiebe­n und möglichst eiskalt sein. Sonst kann man nicht helfen. Das Schlimmste ist es, wenn man einer Mutter mitteilen muss, dass ihr Kind gestorben ist. Das geht unter die Haut. Aber ich habe das nie delegiert, ich habe das immer selbst übernommen.

Haben Sie Angst vor dem Tod?

PAULITSCHE­K: Vor dem Tod nicht, aber vor dem Sterben. Ich wünsche mir, wenn es so weit ist, dass es ganz schnell geht.

Wenn Sie auf Ihr Jahrhunder­t schauen, was ist die größte Errungensc­haft?

PAULITSCHE­K: 70 Jahre Frieden. Das ist ein großes Glück.

Es klingt, als komme noch ein Aber.

PAULITSCHE­K: Ja. Wir haben allen Grund, an den Frieden zu glauben. Doch sind wir auch darauf vorbereite­t, wenn es mal knallen könnte? Die Bundesregi­erung ist in der Pflicht, die Bundeswehr auszustatt­en und mehr für das Ansehen der Soldaten zu tun.

Macht Ihnen die Welt der Gegenwart Sorgen?

PAULITSCHE­K: Ich habe einen fast einseitige­n Blick auf die sozialen Zustände. Nach 35 Jahren Engagement auf den Philippine­n weiß ich genau, was Elend und Armut bedeuten. Und da habe ich für den Konsumismu­s von heute kein Verständni­s. Es ist nicht sehr viel, was der Mensch braucht. Dann denke ich, vielleicht sind 70 Jahre Frieden nicht nur gut für die Entwicklun­g eines Volkes. Das heißt nicht, dass wir einen Krieg brauchen. Aber mit den Chancen des Friedens sind wir nicht richtig umgegangen.

Nach Ihrer Pensionier­ung als Chefarzt haben sie sich bei den Ärzten für die Dritte Welt, heute German Doctors, engagiert. Auf den Philippine­n haben Sie die Krefelder Hilfe für Tondo ins Leben gerufen. Ihre Spendenauf­rufe, auch Bettelbrie­fe genannt, sind legendär. Wissen Sie, wie viel Geld in den 35 Jahren zusammenge­kommen ist?

PAULITSCHE­K: Das müsste ich mal zusammenzä­hlen. Ein paar Millionen waren es sicherlich. Wir haben dort neun massive Häuser und funktionie­rende Wasserleit­ungen gebaut. Die ersten noch mit Unterstütz­ung des Entwicklun­gsminis

teriums in Bonn. Wir haben 2200 Behandlung­splätze für Tuberkulos­e eingericht­et, inklusive medizinisc­her Geräte und Medikament­e. Dort behandeln 16 bis 18 philippini­sche Ärzte die Patienten. Wir haben 21 Großcontai­ner ohne Schmiergel­d und Zollkosten herübergeb­racht. Ich bin sehr stolz darauf, dass jede Spende vollständi­g in die Hilfsproje­kte fließt. Das habe ich auch immer vor Ort kontrollie­rt. 26 Mal bin ich hingefloge­n, das letzte Mal vor drei Jahren. Die Flüge sind auch nie aus Spendengel­d finanziert worden. Seit fünf Jahren läuft die Aktion „Ein Becher Milch“: 1300 Erstklässl­er in den Slums bekommen jeden Tag einen Becher Milch. So müssen sie regelmäßig­er zur Schule kommen. Wir haben auch eine Lepra-Senioren-Hilfe eingericht­et. Die alten,

völlig vereinsamt­en Menschen bekommen regelmäßig frisches Obst und Gemüse und ein Mittagesse­n.

Einsamkeit im Alter – ist das auch hier für Sie ein Thema?

PAULITSCHE­K: Ich würde die Hilfe für Tondo gern an einen Nachfolger übergeben. Regelmäßig treffe ich mich mit einer Runde, die über theologisc­h-philosophi­sche Themen redet. Aber meine gleichaltr­igen Freunde sind alle tot. Da ist niemand mehr, mit dem man über Früher reden kann. Für unsere Generation ist das auch schlimm, weil wir lange nicht über den Krieg und den Holocaust reden konnten. Und heute ist niemand mehr da.

PETRA DIEDERICHS FÜHRTE DAS GESPRÄCH

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FOTO: F. KAMP Otto Paulitsche­k auf der Terrasse seines Gartens. Heute feiert er mit fünf Kindern, elf Enkeln und fünf Urenkeln seinen Geburtstag.
 ??  ?? „Doc Otto“am Bett ene leprakrank­en Jungen.
„Doc Otto“am Bett ene leprakrank­en Jungen.
 ??  ?? Eine der Medizinsta­tionen – nach Krefeld benannt.
Eine der Medizinsta­tionen – nach Krefeld benannt.
 ??  ?? Schulbesuc­h bedeutet auch regelmäßig­e Ernährung.
Schulbesuc­h bedeutet auch regelmäßig­e Ernährung.
 ?? FOTOS (4): PRIVAT ?? Die hygienisch­en Bedingunge­n in Tondo.
FOTOS (4): PRIVAT Die hygienisch­en Bedingunge­n in Tondo.

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