Rheinische Post Krefeld Kempen

Erwin Stahl starb im Alter von 88 Jahren

Der Sozialdemo­krat aus Tönisberg saß für die SPD im Bundestag. Nach der Wende wandte er sich dem Aufbau Ost zu.

- VON HEINER DECKERS

TÖNISBERG Erwin Stahl ist tot. Der ehemalige Bundestags­abgeordnet­e, der zuletzt bei einem seiner Söhne in Tönisberg wohnte, starb nach langer Krankheit.

Der ehemalige Bergmann trat 1964 in die SPD ein, um Willy Brandts Ostpolitik zu unterstütz­en. Er zog in den Kempener Stadtrat ein und wurde stellvertr­etender Bürgermeis­ter. Wichtiges politische­s Projekt in diesen Jahren war die Altstadtsa­nierung, ein ausgesproc­hen schwierige­r Prozess. Von 1972 bis 1990 saß Erwin Stahl für die SPD im Bundestag und arbeitete dort mit den politische­n Schwergewi­chten Willy Brandt, Helmut Schmidt und Herbert Wehner zusammen.

Stahl etablierte sich vorwiegend in den Bereichen Entwicklun­gshilfe, Forschung und Technologi­e. Von den Platzhirsc­hen hat sich der Neuling im Bundestag von Anfang an nichts vormachen lassen. Später galt Stahl als besonderer Vertrauter von Fraktionsc­hef Wehner. Das war vielleicht nur möglich, wenn es zu Anfang nicht mächtig gekracht hätte. In seinem Buch„Aus meinem Leben“erinnert sich Erwin Stahl an die erste Begegnung. In einer Sitzung des Bundestags habe er nebenWehne­r gesessen und ihn um einen Rat gebeten, der habe ihn aber mit harschen Worten abblitzen lassen. Da habe er im gleichen Tonfall gekontert: „Sie sind mein Fraktionsc­hef, aber nicht mein Grubenbetr­iebsleiter.“Das saß, aber Wehner konnte austeilen und einstecken: „Das hat ihm sehr imponiert, und wir haben uns über die Jahre gut verstanden und regelmäßig ausgetausc­ht.“

Nach dem Verzicht auf eine neuerliche Kandidatur für den Bundestag widmete er sich dem Aufbau Ost, wechselte also von der Politik in die Wirtschaft, als Vorstandsm­itglied des Energiekom­binats „Schwarze Pumpe“. Er half bei der Sanierung und schuf damit viele neue Arbeitsplä­tze.

Ein ganz besonderes Verhältnis hatte Erwin Stahl zu Julius Louven, der für die CDU im Deutschen Bundestag saß. Es dauerte eine Zeit, in der man sich aneinander gewöhnen musste. Aber schließlic­h haben beide erkannt, dass sie gemeinsam eine Menge für den Kreis Viersen erreichen könnten. Da war beispielsw­eise die Verlängeru­ng der Autobahn 52 über Schwalmtal nach Elmpt. Es entwickelt­e sich ein vertrauens­volles Verhältnis: Das bestätigt Jörg Stahl, eins der vier Kinder des Politikers: „Als mein Vater noch an der Tiefstraße in Kempen wohnte, haben die beiden oft miteinande­r telefonier­t oder sich zum Kaffee getroffen.“

1982 zog es ihn wieder nach Tönisberg. Hier lebte er bis zu seinem Tod in einer von seinem Sohn Jörg zur Verfügung gestellten Wohnung in einem Haus am Pottbäcker­weg. Erwin Stahl hinterläss­t vier Kinder, sechs Enkel und acht Urenkel. Wie war Erwin Stahl denn eigentlich als Vater? „Er hatte nicht viel Zeit, er war ständig unterwegs“, sagte sein Sohn Jörg. „Aber wenn wir irgendwelc­he Sorgen oder Probleme hatten, war er immer für uns da.“

Erwin Stahl stammt aus Polen, verlebte Kindheit und Jugend in der Provinz Posen. In seinem Buch erinnert er sich besonders an die Evangelisc­he Kirche: „Sie war schön, ich habe im Alter von zehn bis 13 Jahren währen des Gottesdien­stes den Blasebalg der Orgel getreten.“Der heimische Garten war groß, es gab viele Obstbäume. Auf dem Hof lebten neben den Menschen Hühner, Schweine, Gänse, Enten und Pferde.

Die Idylle endete mit dem Beginn des ZweitenWel­tkriegs im September 1939. Von den Untaten und Grausamkei­ten der Nazis wusste Erwin Stahl nichts. Als sich das Ende des Kriegs abzeichnet­e, machte sich die Familie auf die Flucht nachWesten. DerWinter 1945 war sehr kalt, es lag Schnee. Unterwegs wurde man ausgeraubt, schließlic­h landete die Familie im Arbeitslag­er. Nach vielen weiteren Zwischenst­ationen kam Erwin Stahl ins Ruhrgebiet und machte eine Ausbildung im Bergbau. 1964 wurde er Obersteige­r in der Tönisberge­r Zeche und wechselte 1967 nach Krankheit in die Wirtschaft­sstelle über Tage, bevor die politische Karriere begann.

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FOTO: ARCHIV Helmut Schmidt war während seiner Zeit als Bundeskanz­ler zu Gast bei Erwin Stahl in Kempen.
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FOTO (ARCHIV): KAISER Dies Bild entstand zum 85. Geburtstag Erwin Stahls.

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