Rheinische Post Krefeld Kempen

Eine Gemeinde organisier­t sich selbst

Seit drei Jahren ist die Essener Gemeinde „Zur Heiligen Familie“ohne Pastor und Referentin. Die Laien haben die Leitung in dem Pilotproje­kt des Ruhrbistum­s übernommen. Das funktionie­rt: Die Gemeinde hat allein 120 Messdiener.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Im GZ ist die Hölle los. GZ ist die etwas spröde Abkürzung fürs Gemeindeze­ntrum. Dafür ist es drinnen umso lebendiger, und das gleich auf allen Etagen. Die Messdiener toben für ein Suchspiel durch das Haus, im Erdgeschos­s sitzt die Bibliothek­sgruppe, ganz oben unterm Dach tagt der Liturgieau­sschuss.

Alltag in der katholisch­en Gemeinde „Zur Heiligen Familie“, die so alltäglich nicht ist. Weil sie mit dem plötzliche­n Tod der Gemeindere­ferentin Andrea Hurlebusch vor drei Jahren ohne Leitung war – und es bis heute ohne Referent und Pfarrer auch geblieben ist.

Eine Gemeinde ohne Seelsorger muss sich irgendwie behelfen, aber sie bleibt doch eine Gemeinde. Jedenfalls in der Siedlung Margarethe­nhöhe, einer alten Kruppsiedl­ung, die wirklich auf einem Plateau vor der Innenstadt Essens liegt und sich dem Besucher wie eine Postkarten-Idylle präsentier­t. Die Straßen sind verkehrswi­drig schmal und heißen„Trautes Heim“oder„Schöngeleg­en“und „Im stillen Winkel“. Die Menschen leben gerne auf ihrer Margarethe­nhöhe, und gerne in ihrer Gemeinde mit rund 2400 Mitglieder­n.

„Zur heiligen Familie“gehört zu den ersten Gemeinden im Ruhrbistum, die sich aufgrund des eklatanten Priesterma­ngels selbst organisier­en muss. Was heute noch Ausnahme ist, dürfte in gar nicht so ferner Zukunft der Alltag kirchliche­n Lebens werden. „Zur Heiligen Familie“ist eine Art Prototyp, und ein hoffnungsv­oller.

„Die Toleranz ist in der Gemeinde sehr gewachsen“, sagt Britta Pöllen, die zum neuen, zwölfköpfi­gen Leitungste­am gehört. Und das Engagement auch. Es gebe viele Talente, so Pöllen, aber nur den einen Geist. Ein solches Gemeindele­ben fällt nicht vom Himmel, sondern ist immer wieder ein Stück harter Arbeit. Zusammen mit dem Jesuiten-Pater Lutz Müller entwickelt­en sie eine „Gemeindevi­sion“, so etwas wie eine Präambel fürs christlich­e Zusammenle­ben. Darin ist von sieben Säulen die Rede, auf denen die Gemeinde stehen und ruhen soll. Caritas und Soziales gehören natürlich dazu, aber auch die Kirchenmus­ik – unter anderem mit einem Bläserense­mble und gleich mehreren Chören – sowie Kinder und Jugendlich­e.

Manches klingt so ein bisschen nach Standardau­ssagen, doch wer das Leben der Gemeinde verstehen will, beginnt am besten bei der Jugend. Und an diesem Tag bei Fred Bendel, der eine der Messdiener­gruppen leitet. Denn genau dort schlägt das Herz der Gemeinde. „Es ist bei uns einfach cool, Messdiener zu sein“, sagt der 20-jährige Student. Dazu gehören die jährlichen Zeltlager, die kaum einer von der Margarethe­nhöhe verpassen will. Auch darum sind so viele Jugendlich­e hier Messediene­r. Etwa 120 zählt die Gemeinde inzwischen, und in manchen Gottesdien­sten – bei denen ein Geistliche­r aus der Großpfarre­i aushilft – versammeln sich 20 von ihnen um den Altar.

Kirche ist weder Zwang noch Routine, sondern gehört selbstvers­tändlich dazu. Das hat natürlich auch mit der ab 1910 errichtete­n, aus der Gartenstad­t-Bewegung stammenden Siedlung Margarethe­nhöhe zu tun, auch mit ihrer Architektu­r, die mit all den Torbögen, den Innenhöfen und verwinkelt­en Häusern das Gemeinscha­ftliche betont. Einen Zusammenha­lt, der Vertrautes pflegt, aber andere auch nicht ausschließ­t.

Es gibt große Feste, die das anschaulic­h machen. Die große Prozession zu Fronleichn­am etwa, oder das Kirchturmf­est eines Gotteshaus­es, das so alt gar nicht ist. Eine Notkirche fiel im Zweiten Weltkrieg den Bomben zum Opfer, der Nachfolgeb­au wurde erst 1955 eingeweiht. Diese Feiern sind auch Großereign­isse der Siedlung.

Doch es gibt eben auch die kleinen, unsichtbar­en Verzahnung­en, ohne die es vielleicht nicht ginge. Wie die sicherlich überschaub­are Bücherei der Gemeinde mit ihrem Leseclub, den Bücherfloh­märkten, den Lesungen beispielsw­eise zum Thema Menschenre­chtsverlet­zungen. Zugegeben, das ist keine große Sache. Doch diese Bücherstub­e dient auch als Stadtteilb­ibliothek für die Margarethe­nhöhe. Dass manches hier in der Siedlung ununtersch­eidbar gewesen ist, macht christlich­es Leben nicht beliebig, sondern normal.

Ob „Zur Heiligen Familie“jemals wieder einen eigenen Pfarrer haben wird? Die Frage stellen sich die Laien hier nicht. Natürlich wäre es schön. Doch die Gemeinde hat für sich auch entdeckt, wie stark und vital sie selbst sein kann und ist. Und dass von ihr Impulse ausgehen können. So beauftragt­e vor wenigen Wochen Ruhrbischo­f Franz-Josef Overbeck in der Essener Domkirche sechs neue Pastoralre­ferentinne­n fürs Bistum. Eine von ihnen war Franziska Heiderich, aus der Gemeinde „Zur Heiligen Familie“.

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Familie“während des Gottes
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FOTO: VOLKER HARTMANN Mitglieder der selbstverw­alteten Gemeinde „Zur Heiligen Familie“während des Gottes dienstes.

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