Rheinische Post Krefeld Kempen
Von Angesicht zu Angesicht
MEINUNG Dass eine vermummte Aktivistin Greta Thunberg durch den Hambacher Forst führte, löste bei vielen Menschen Empörung und Unverständnis aus. Wie viel Vermummung kann eine Gesellschaft aushalten?
Der Mensch will den Menschen erkennen. Er will ihn nicht nur sehen, er will ihn ausmachen, will wissen, mit wem er es zu tun hat. Und erkennbar ist der Mensch am Gesicht. Es ist von jeher seine Visitenkarte und Spielort seiner Emotionen. Mimik – ob echt oder inszeniert – ist das Fenster, durch das Gefühle und Stimmung erahnt werden können. Wenn Menschen sich also vermummen, stößt das andere vor den Kopf – so wie viele Menschen mit Empörung und Unverständnis reagierten, als eine vermummte Aktivistin Greta Thunberg jüngst durch den Hambacher Forst führte.
Seit der Industrialisierung lebt der Mensch nicht mehr nur dort, wo er geboren wurde. Er lebt nicht mehr nur mit Menschen zusammen, die er kennt und die er einschätzen kann, weil er Erfahrungen mit ihnen teilt. In der modernen Welt herrscht Anonymität. Wir leben mit Fremden. Die Eindrücke, die wir über sie haben, stammen in erster Linie aus dem Blick in ihr Gesicht. Wir interpretieren es und ziehen daraus Schlüsse, entscheiden, ob wir den Menschen für gefährlich halten oder nicht. Und deswegen stören wir uns an Vermummung: weil sich der Vermummte unserer Interpretation und Einschätzung entzieht und sich einer Begegnung auf Augenhöhe verweigert.
Deswegen ist die gesellschaftliche Verurteilung von Vermummung jeglicher Art auch auf eine Kränkung zurückzuführen. Doch Kränkung hin oder her – grundsätzlich kann sich jeder vermummen. Darauf machte in der Debatte um die Hambacher-Forst-Aktivisten auch der baden-württembergische Datenschutzbeauftragte Stefan Brink aufmerksam: „Die Frage ist nicht, ob wir uns vermummen, sondern ob jemand von uns verlangen kann, dass wir unser Gesicht zeigen. Die Antwort heißt ganz eindeutig nein.“Damit zog Brink heftige Kritik auf sich. Dabei ist die Rechtsla
ge klar: Laut Bundesversammlungsgesetz ist es abgesehen von Ausnahmen verboten, bei öffentlichenVersammlungen unter freiem Himmel vermummt aufzutreten. Im Privaten ist Vermummung also erlaubt, auf öffentlichen Veranstaltungen nicht. Ziel dürfte es sein, die Verfolgung von Straftaten zu erleichtern, die während einer Demonstration begangen werden. Denn eine Vermummung würde eine Identifizierung erschweren oder unmöglich machen. Das Vermummungsverbot ist eine Methode zur Vereinfachung von Strafverfolgung.
Es ist allerdings durchaus umstritten, ob dieses Verbot ein angemessenes Mittel zur Wahrung der öffentlichen Ordnung ist. Auch harmlose Demonstranten, die keine Straftat planen, können Gründe haben, weshalb sie ihre Identität nicht preisgeben wollen: Dazu gehören ein allgemeiner Wunsch nach Anonymität, Angst vor Diskriminierung und Angst vor gewalttätigen Übergriffen durch politische Gegner. Das Landgericht Hannover hat daher bereits im Januar 2009 eine Demonstrantin freigesprochen, die sich zum Schutz vor politischen Gegnern, die Kundgebungen systematisch filmen und das Bildmaterial möglicherweise für Repressalien verwenden, vermummt hatte. Das Gericht merkte an, der Gesetzgeber könne sich durch dasVermummungsverbot unwillentlich zum Gehilfen bestimmter politischer Gruppierungen machen.
Und doch: Jeder Demonstrant muss sich bewusst sein, dass das martialische Erscheinungsbild einer Vermummung nicht den Eindruck erweckt, friedlich demonstrieren zu wollen. Auch wenn es rechtlich unproblematisch war, dass die Hambacher-Forst-Aktivistin ihr Gesicht verbarg, heißt es nicht, dass es gesellschaftlich ebenso problemlos vermittelbar ist. Wer sein Gesicht nicht zeigt, der hat etwas zu verbergen – so der allgemeine, einleuchtende Vorwurf.
Doch auch für diese These gibt es ein Aber, auf das auch Datenschützer Brink eingeht: „In einer idealen Welt kann jeder sein Gesicht zeigen – in unserer gibt es viele gute Gründe, das nicht zu tun. Leider“, hatte Brink geschrieben. Ein zutiefst pessimistisches Bild unserer Gesellschaft – die Vermummung als ein Akt des Selbstschutzes?
Ungeachtet der Frage, ob die Aktivistin linksextrem ist und durch ihre Vermummung ihrer Szene huldigen wollte, muss, wer fair ist, auch die andere Möglichkeit in Betracht ziehen. Könnte es sein, dass sich hier jemand schützen will? Wer das rigoros ablehnt, sollte sich klarmachen, welchen Kommentaren die jungen Klimaaktivisten ausgesetzt sind. Eine Auswahl aus Twitter und Facebook: „psychotische Phantasten“, „Jungmuschis“, „einfach widerlich solche Kreaturen“. Gegen Greta Thunberg direkt richten sich Aussagen wie: „autistisches Kind“, „Marionette mit Zöpfen“, „dummes missbrauchtes Kind“, „Hoffentlich ist das Gör bald weg“,„Sie muss, und zwar mit allen Mitteln, gestoppt werden“, „Bald schon werden sie dich töten“. Über Luisa Neubauer, eine der Hauptorganisatorinnen der „Fridays for Future“-Bewegung in Deutschland, heißt es: „völlig überschätzte Planschkuh“, „eine Selbstdarstellerin, die von einer kranken Greta sich inspirieren hat lassen“, und gemeinsam mit Thunberg gehöre sie„zum Abschuss freigegeben“. Und zu guter Letzt die Kommentare zu dem besagten Foto, das Thunberg im Hambacher Forst neben der vermummten Person zeigt: „Der Vermummte hat Titten! Jetzt werde ich scharf. Mal nach rechts zu der Neubauer geschielt und schon geht’s wieder“, „diese starrende Fratze kotzt mich grade an“, „Autisten unter sich“, „voll behindert“.
Dies ist nur eine Auswahl, deren Wiedergabe in einer Tageszeitung kaum erträglich ist. Sie stammen überwiegend von anonymen Accounts, viele weitere Kommentare beinhalten explizite Vergewaltigungsfantasien. Das macht sprachlos und ist widerlich, nicht nur, weil es sich gegen Kinder und Jugendliche richtet. Vor diesem Hintergrund kann man vielleicht erahnen, was der Datenschützer Brink mit Notwehr meint: Dieser Hass ist ein Problem. Ein größeres als die vermummte Person.
Wer sein Gesicht nicht zeigt, der hat etwas zu verbergen – so der ein
leuchtende Vorwurf