Rheinische Post Krefeld Kempen
„Das wird die Mädchen immer begleiten“
Im Lügde-Prozess helfen Opferschützer den missbrauchten Kindern, mit dem Erlebten klarzukommen.
DÜSSELDORF Am Donnerstag wird der Prozess um den massenhaften Kindesmissbrauch von Lügde fortgesetzt und könnte schon am Freitag mit den ersten Plädoyers in die Endphase gehen. AndreasV. (59) und der Mario S. (34) sollen über Jahre auf einem Campingplatz hundertfach Kinder schwer sexuell missbraucht und dabei gefilmt haben. Ehrenamtliche Opferschützer wie Anke Heldt (52) von der Organisation „Weißer Ring“helfen den missbrauchten Kindern, etwa bei Zeugenaussagen und in Vernehmungen.
Frau Heldt, Sie betreuen mit Ihren Kollegen fünf Opfer im Lügde-Prozess. Wie ist dieser aus Ihrer Sicht bislang verlaufen?
ANKE HELDT Durch das frühe Geständnis der Täter ist der Prozess für alle Beteiligten bisher gut gelaufen. Die jüngeren Opfer, die ich mit meinen Mitarbeitern betreue, mussten nicht mehr aussagen. Man konnte spüren und ihnen ansehen, dass dadurch eine große Last von ihnen gefallen ist. Allerdings musste eine heute 18-Jährige aus unserer Gruppe in den Zeugenstand. Sie wollte, dass die Angeklagten im Saal bleiben, weil sie über Andreas V. sagte: „Der soll ruhig wissen, wie beschissen es mir geht.“Sie war sehr angespannt, es war sehr anstrengend für sie. Im Saal hat sie nicht geweint, hinterher ist sie aber in Tränen ausgebrochen. Meine Kollegin und ihre Anwältin haben sich während der Zeugenaussage neben sie gesetzt, um sie gut von der Anklagebank abzuschirmen.
Wie alt sind die Mädchen, die Sie begleiten? Über welchen Zeitraum waren sie regelmäßig auf dem Campingplatz bei Andreas V.?
HELDT Wir begleiten Mädchen von acht bis 18 Jahren. Die Älteste aus der Gruppe zählte zu den ersten, die Jüngste zu den letzten der Lügde-Opfer. Für die Älteste ist alles, was auf dem Campingplatz passiert ist, schon mehr als zehn Jahre her. Ihre kleine Schwester ist auch vom Missbrauch betroffen. Die Zeit, die die Mädchen auf dem Campingplatz verbracht haben, war unterschiedlich lang. Manche waren nur wenige Tage bei Andreas V., andere mehrere Monate. Der Täter fand ja auch Kinder, die älter als zehn Jahre alt waren, nicht mehr interessant. Die Opfer waren sechs bis acht Jahre alt, die Älteste zehn.
Wie wurden sie auf die Vernehmung im Prozess vorbereitet? Was ist besonders schwer für die Opfer, aber auch für deren Angehörige?
HELDT Wir haben den Opfern erklärt, was im Gerichtssaal passiert und haben den Saal besichtigt. Die Vorsitzende Richterin Anke Grudda war dabei, sie hat den Kindern erklärt, wer wo sitzt, die Kinder durften sich dann auch mal auf den Richterstuhl setzen. Sie ist super mit den Kindern umgegangen und hat ihnen gesagt, dass sie keine Angst haben müssen. Auch während des Prozesses: DieVorsitzende geht sehr behutsam mit den Kindern um. Trotz der Geständnisse wollte sie sich ja von einigen Kindern einen Eindruck verschaffen. Sie zieht ihre Robe aus und setzt sich zu ihnen an den Tisch. Das ist schon toll. Besonders groß war für die Kinder die Angst, die Täter wieder zu sehen. Und viele Eltern haben erst durch die Anklageschrift erfahren, was wirklich passiert sein soll – das ganze Ausmaß des Missbrauchs. Da sind schon Tränen geflossen. Bei den Vernehmungen der Kinder bei der Polizei waren die Eltern in den meisten Fällen nicht dabei.
Wie haben Sie die Angeklagten bisher im Verfahren wahr genommen?
HELDT Dazu möchte ich während des laufenden Verfahrens nichts sagen.
Sie arbeiten ehrenamtlich: Was treibt Sie an und wie verarbeiten Sie persönlich, was Sie im Prozess hören und sehen?
HELDT Ich möchte den Opfern so gut wie möglich beistehen und ihnen helfen, ihre Rechte durchzusetzen. Es gibt nach wie vor zu wenig Hilfe und Aufklärung für Opfer. Für mich selbst sorge ich während des Verfahrens für Abwechslung. Ich nehme mir mal eine Auszeit und fahre ans Meer, um abzuschalten. Ich gehe viel schwimmen, um Stress abzubauen. Wir sprechen im Team auch über den Prozess und wenn wir merken, dass wir die Gedanken nicht mehr davon abwenden können, haben wir die Möglichkeit einer Supervision. Hygiene der Psyche ist in der Opferhilfe sehr wichtig.
Was erhoffen sich die Opfer und ihre Angehörigen vom Prozess?
HELDT Eine faire Verurteilung. Alle Eltern wollen zur Urteilsverkündung kommen, die spätestens Anfang September sein wird.
Es gab Vermutungen, dass einige Eltern ihre Kinder trotz Verdachtsmomenten weiter zu V. geschickt haben – wie schätzen Sie das ein? Hätten die Ermittler schon früher aufmerksam werden können?
HELDT Dazu kann ich nicht viel sagen, kann es mir aber nicht vorstellen. Inwieweit die Ermittler schon früher hätten aufmerksam werden können, kann ich nicht beurteilen.
Ihrer Erfahrung nach: Wie lange wird der Missbrauch die Mädchen begleiten? Welche Folgen haben die Taten für ihr weiteres Leben?
HELDT Der Missbrauch wird die Mädchen ein Leben lang begleiten. Jeder Mensch reagiert anders, es geht von leichten psychischen Problem wie Schlafstörungen oder Nervosität bis hin zum Borderline-Syndrom oder dauerhaften posttraumatischen Belastungssyndromen. Es heißt ja immer: Die Täter kriegen vielleicht zehn Jahre – die Opfer haben lebenslänglich. Da ist auf jeden Fall etwas dran.