Rheinische Post Krefeld Kempen
Die Abschaffung der Zinsen
Die Minizinsen werden uns noch über Jahre begleiten. Das lässt Hauspreise und Aktienkurse weiter steigen.
An heißen Sommertagen fällt es abends nicht leicht, in den Schlaf zu kommen. Viel zu warm ist es. Nicht jeder kann bei offenem Fenster schlafen. Hier dröhnen die Autos, dort droht eine Mückeninvasion, anderswo verbreitet eine Entlüftung den Duft von ranzigem Frittierfett. Fenster auf oder zu? Natürlich können wir frei entscheiden, aber im Ergebnis ist beides auf seine Art eine Qual.Wir sprechen dann von der Wahl zwischen Pest und Cholera.
Ähnlichem Stress sind derzeit die Verantwortlichen der großen Notenbanken ausgesetzt. Nehmen wir Mario Draghi. Der Chef der Europäischen Zentralbank (EZB) hat keine Chance, es allen recht zu machen. Laut klagen die Deutschen darüber, die Zinsen seien viel zu niedrig. Nämlich null und bei wirklich guten Schuldnern wie der Bundesrepublik Deutschland sogar negativ. Der Sparer werde auf dieseWeise enteignet, ist ein häufig zu hören
der Vorwurf. Also Zinsen rauf?„Bloß nicht!“rufen viele Südeuropäer und andere, die von hohen Schulden gedrückt werden. Bei höheren Zinsen könnten sie unter der Last zusammenzubrechen.
Lautes Geschrei würde die Notenbanker sicher nicht davon abhalten, dem Pfad der Tugend zu folgen. Wenn er denn klar markiert wäre. Doch auch die Währungshüter haben nur die Wahl zwischen Pest und Cholera. Heben sie die Zinsen an, könnte das eine ohnehin wacklige Wirtschaft endgültig in die Rezession schubsen. Angesichts einer sehr verhaltenen
Preisentwicklung fast überall auf dem Globus droht dann sogar eine Deflation. Sparer könnten dann zwar mehr Zinsen bekommen, nicht wenige von ihnen würden aber in der Rezession arbeitslos.
Dann lieber die Zinsen weiter senken? Damit noch mehr Geld ohnehin pralle Preisblasen weiter aufpumpt? Und Zombie-Unternehmen ohne Plan und Daseinsberechtigung sich weiter durchwursteln können und damit der solideren Konkurrenz das Leben schwermachen können? Zu viel billigem Geld folgt früher oder später der große Knall. Eine akute Gefahr für das
gesamte Finanzsystem, so wie zuletzt im September 2008. Die Pleite von Lehman Brothers in den USA schockierte nicht nur die Bankenwelt.
Doch liegt in dieser Zeit auch der Schlüssel zu dem, was die Notenbanken heute tun. Vor die Wahl zwischen Deflation und Finanzkrise gestellt, wählen sie letztere – allen voran die US-Notenbank Fed. Denn die Währungshüter sind überzeugt: mit der Bewältigung der Lehman-Pleite habe man bereits eine Art Drehbuch für ein erfolgreiches Vorgehen im Krisenfall in der Schublade. Einfach gesagt – im Zweifel für die Zinssenkung. Denn in der Gegenrichtung droht das Trauma der US-Wirtschaft: So wie man uns Deutschen eine tief verwurzelte Inflationsfurcht nachsagt, so einschneidend wirkte in Millionen amerikanischen Familien die große Depression Anfang der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Und nicht zuletzt der Fall Japan zeigt, dass Notenbanken kein wirksames Gegenmittel gegen Deflation haben. Das Problem: wenn alles immer billiger wird, kauft niemand mehr etwas – bald ist es ja noch billiger.
Insofern fällt die Prognose nicht schwer, dass die Zinsen in der Euro-Zone viel länger niedrig bleiben werden, als wir bislang gedacht haben. Und das gilt weit über die Eurozone hinaus. Für Sparbuch-Inhaber eine schlechte Nachricht. Für Immobilienmärkte und für die Börsen hingegen ist es ein Grund zum Jubel. Mögen sich auch dunkle Wolken über der Konjunktur zusammenziehen – auf absehbare Zeit werden Hauspreise und Aktienkurse zulegen. Denn sie treibt ja nicht nur der akute Mangel an profitablen Alternativen, sondern auch das endgültige Ende einer Illusion: Minuszinsen werden uns auf Jahre hinaus verfolgen.
Der Autor ist Chefanlagestratege Private Banking HSBC Deutschland