Rheinische Post Krefeld Kempen
Krefelder Trilogie: Familie Meyer in den Schrecken der Pogromnacht
Mit „Zeit aus Glas“legt Ulrike Renk den zweiten Band ihrer Familien-Saga vor. Sie konzentriert sich auf die Jahre 1938 und 1939 – eine Zeit vieler Abschiede, auch von Krefeld.
Die Geschichte beginnt mit tiefer Unsicherheit: „Ihr könnt jetzt gehen, es scheint sicher zu sein“, sagt Josefine Aretz zu den beiden Töchtern der befreundeten Familie Meyer. Die Mädchen haben bei ihr sicheren Unterschlupf gefunden. Es ist November 1938, und der Druck der Nationalsozialisten auf die jüdische Bevölkerung wächst. Die jüdische Familie Meyer erfährt Repressalien, Anfeindungen von nicht-jüdischen Nachbarn. Die Freundschaft mit der katholischen Familie Aretz bedeutet ein Quentchen Sicherheit, zumindest für die minderjährigen Kinder.
Doch die wollen wissen, was mit ihren Eltern ist. Die vergangenen Tage sind bedrohlich gewesen, immer wieder hatten Nationalsozialisten die Läden von jüdischen Kaufleuten zerstört, waren inWohnhäuser eingedrungen. In der vergangenen Nacht haben die Synagogen gebrannt. Jetzt ist es gespenstisch ruhig. Kaum jemand ist auf der Straße. Auf dem Weg zum Elternhaus sehen die Mädchen Verwüstung, Scherben und Trümmer. Und auch das Elternhaus ist gestürmt worden.
Mit der Pogromnacht startet Ulrike Renk in den zweiten Teil ihrer Trilogie über das Schicksal einer Familie. „Zeit aus Glas“führt die Geschichte der Meyers fort, die im ersten Band „Jahre aus Seide“eine glückliche Zeit in ihrem Haus in der Nachbarschaft der Villa Merländer verbracht haben. Der Vater ist gut verdienender Kaufmann, er handelt mit Schuhen. Tochter Ruth, die zentrale Figur des Romans, und ihre jüngere Schwester Ilse wachsen behütet auf und sind oft Gast in der Villa von Richard Merländer, mit der Tochter seiner Haushälterin ist Ruth befreundet.
Ulrike Renk hat in der NS-Dokumentationsstelle in der Villa Merländer intensiv recherchiert und hält Kontakt mit Nachfahren der Familie Meyer. Es ist eine wahre Geschichte, die die Krefelder Autorin in ihrer Familien-Saga erzählt – bereichert um romanhafte Details. Für Renk ist es ein Herzblut-Projekt. Und das ist an der Zeichnung ihrer Figuren spürbar. Es braucht nur wenige Seiten, um die Familie und ihre Freunde ins Herz zu schließen. Renk erzählt in warmherzigem Ton.
Das wird im zweiten Band fast zum Manko. Die Schrecken der Zeit schildert Renk ausladend und detailreich. Die Erzählung wird düster und zäh. Über mehr als 300 Seiten erlebt der Leser immer wiederkehrende Überfälle von Nazis, die nicht enden wollende Angst vorVerhaftung von Familie und Freunden und das bleierne Warten auf eine Ausreisegenehmigung. Der Roman tritt auf der Stelle in immer wiederkehrenden Details jener dunklen Zeit. Wie in vielen Trilogien hängt der Mittelteil leicht durch.
Auch wenn der Band keinen so starken Sog wie „Jahre aus Seide“entwickelt, fasziniert die Persönlichkeit der Ruth Meyer. Als 17-Jährige fälscht sie ihr Geburtsdatum und macht sich älter, um eine Ausreisegenehmigung nach England zu erhalten. Dort werden junge, hauswirtschaftlich versierte Frauen gesucht. Die Sache geht tatsächlich auf. Obwohl in England nicht alles rund läuft: Sie leitet alles in die Wege, damit ihre Eltern und die Schwester ihr aus Krefeld folgen können. Aber sie weiß: „Die Nazis sind unberechenbar.“Mit dieser Einsicht beginnt das Warten auf Band drei.